Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 216
Text
Von Nina Hoffmann (Wien).
(Fortsetzung.)
Hören wir den Dichter selbst davon erzählen:
»Am 15. October d. J. (1876) ist bei Gericht der Fall jener
Stiefmutter entschieden worden, die, ihr erinnert euch wohl dessen,
im Monat Mai ihr sechsjähriges Stieftöchterchen vom vierten Stock-
werk aus dem Fenster hinauswarf, wobei das Kind wie durch ein
Wunder unversehrt und gesund geblieben ist. Diese Stiefmutter, Katharina
Kornilowa, eine 20jährige Bäuerin, war an einen Witwer verheiratet,
welcher, nach ihren Aussagen, mit ihr im Streit lebte, sie nicht zu ihren
Angehörigen gehen, diese letzteren auch nicht in sein Haus kommen
liess, ihr immer sein verstorbenes Weib sowie das vorhielt, dass jene
die Wirthschaft besser führte u. s. w. Mit einem Wort, »er brachte sie
dazu, dass sie aufhörte, ihn zu lieben«, und sie kam, um sich an ihm
zu rächen, auf den Gedanken, seine Tochter, das Kind jener Frau, die
er ihr immer vorhielt, aus dem Fenster zu werfen, was sie auch voll-
führte. Mit einem Worte, die Geschichte stellt sich offenbar — mit
Ausnahme der wunderbaren Rettung des Kindes — als eine ziemlich
einfache und klare Geschichte dar. Von diesem Gesichtspunkte aus,
d. h. vom Gesichtspunkte der Einfachheit, hat auch das Gericht die
Sache angesehen und hat, ebenfalls auf die einfachste Weise, die
Katharina Kornilowa, da sie bei Verübung der That mehr als 17 und
noch nicht 20 Jahre zählte, zur Zwangsarbeit in Sibirien auf 2 Jahre
und 8 Monate sowie nach Abbüssung der Strafe zum immerwährenden
Aufenthalt in Sibirien verurtheilt.«
»Und dennoch, ungeachtet aller Einfachheit und Klarheit bleibt
hier etwas nicht ganz Aufgeklärtes übrig. Die Angeklagte (ein Frauen-
zimmer mit ziemlich angenehmen Zügen) wurde in der letzten Periode
ihrer Schwangerschaft vorgeführt, so dass für jeden Fall eine Hebamme
bei der Verhandlung im Gerichtssaal zugegen war. Noch im Mai, als
diese That sich ereignete (da die Angeklagte also im vierten Monat
ihrer Schwangerschaft war), hatte ich im Maiheft meines Tagebuches
folgende Worte (übrigens nur vorübergehend, bei der Besprechung der
routinirten und offiziösen Praktiken unserer »Advocatur«) verzeichnet:
Das ist’s, was in der That aufregend ist während das Verbrechen
dieses Ungeheuers von einer Stiefmutter wirklich doch gar zu seltsam
ist und vielleicht in der That eine feine und tiefe Untersuchung fordern
müsste, welche vielleicht dazu führen könnte, der Verbrecherin das
schwere Los zu erleichtern.« Dieses schrieb ich damals. Nun gehet mit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 216, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0216.html)