Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 217
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mir den Facten nach. Erstens bekannte sich die Angeklagte selbst als
schuldig und das sofort nach der vollbrachten That. Sie selbst auch
hat die Anzeige gemacht. Sie hat damals im Rayonamte erzählt, dass
sie schon am Vorabend beschlossen hatte, mit dem Stiefkind ein Ende
zu machen, welches sie aus Zorn gegen ihren Mann hasste. Allein am
vorangegangenen Abend hatte sie die Gegenwart des Mannes daran
gehindert. Am nächsten Tage jedoch, als der Mann in die Arbeit ge-
gangen war, öffnete sie das Fenster, stellte die darauf stehenden
Blumentöpfe auf die eine Seite des Gesimses und befahl dem kleinen
Mädchen, auf das freigewordene Brett zu steigen und vom Fenster aus
hinunterzuschauen. Das Mägdlein kroch natürlich hinauf, wohl auch mit
Lust, im Gedanken, dass sie Gott weiss was unten erblicken werde.
Aber kaum war sie hinaufgekommen und kniete sie dort, sich mit den
Händen an das Fenster haltend, um hinunterzuschauen, als auch schon
die Stiefmutter ihr von rückwärts die Füsschen in die Höhe hob und
sie, sich überschlagend, hinunterflog. Die Thäterin schloss nun, nachdem
sie dem hinabfliegenden Kinde nachgesehen hatte (so erzählte sie selbst),
das Fenster, kleidete sich an, verschloss die Stube und begab sich in
das Polizeirayonamt, um die Anzeige über das Vorgefallene zu machen.
»Das sind nun Facten, die einfachsten Facten der Welt, sollte man
denken, aber wie viel Phantastisches ist dennoch dabei, nicht wahr?
Unseren Geschworenen hat man bis heute, und das nicht selten, ge-
wisse, thatsächlich phantastische Freisprechungen zum Vorwurf ge-
macht. Manchmal wurde sogar das sittliche Gefühl fernstehender
Menschen dadurch verletzt. Wir haben begriffen, dass man den Ver-
brecher bemitleiden, dass man aber unmöglich in einer so ernsten
Sache, wie das Gericht ist, das Böse gut nennen kann. Indessen wurde
aber das Böse fast gutgeheissen, wenigstens fehlte nicht viel dazu.
Es trat entweder eine falsche Sentimentalität zu Tage, oder man er-
innerte sich nicht des eigentlichen Princips der Gerichtsbarkeit, er-
innerte sich nicht, dass die Hauptsache beim Rechtsprechen darin be-
steht, dass das Böse möglichst gekennzeichnet, dass darauf hingewiesen,
dass es vom ganzen Volke auch so genannt werde. Alles Andere
aber: die Bemühungen für die Milderung seines Loses, die Sorge, den
Verbrecher selbst zu bessern etc. — das sind Alles schon andere
Fragen, tiefe, ungeheure Fragen, die sich aber auf ganz andere Lebens-
gebiete der Gesellschaft beziehen, auf Gebiete, die, man muss das ge-
stehen, noch gar nicht bestimmt, noch gar nicht einmal formulirt sind,
so dass in diesen Theilen der gemeinsamen Thätigkeit auch nicht
einmal das Alpha ausgesprochen worden ist.«
Der Dichter führt nun den Gedanken aus, dass man der Gesell-
schaft gegenüber das Verbrechen gar nicht als solches darstelle, ja
dies sogar von gerichtswegen so geschehe.
Was aber, im einzelnen Falle angewandt, eine geniale Idee
sei, entkleide, wenn verallgemeinert, den Menschen ganz und gar seiner
Persönlichkeit und Individualität, so dass alle diese mitleidigen Rechts-
sprüche der Geschworenengerichte oft in Fällen, wo die Schuld voll-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 217, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0217.html)