Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 218
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kommen erwiesen und durch das Geständniss des Schuldigen erhärtet
ist, direct eine Verurtheilung ablehnen; »er ist nicht schuldig, er hat es
nicht gethan, er hat nicht umgebracht.«
»Wie aber nun,« fährt der Dichter in seiner Argumentation
fort, welche zwar specifisch russische Verhältnisse bespricht, doch
auch für uns eindringlich genug ist, »wie aber nun, wenn mir jetzt,
da ich eben erst von der Verurtheilung der Bäuerin Kornilowa (zu
2 Jahren und 8 Monaten Zwangsarbeit) gelesen, plötzlich in den Kopf
kommt: jetzt wär’ es, da wär’ es, wo man sie ihnen freisprechen
sollte — wie wenn man ihnen jetzt sagte: ‚es hat kein Verbrechen
gegeben, sie hat nicht umgebracht, nicht aus dem Fenster geworfen?‘
Uebrigens werde ich mich in keinerlei Abstractionen oder Gefühle ein-
lassen, um meinen Gedanken zu entwickeln. Mir scheint es ganz ein-
fach, dass die allergesetzlichste Ursache vorhanden war, um die
Angeklagte freizusprechen — ihre Schwangerschaft.«
Nun entwickelt Dostojewsky den einzelnen Fall, wo es angezeigt
ist, das Böse der That in eine äussere Abnormität zu verlegen. An
der Hand vieler Beobachtungen und Erfahrungen, die er als Beispiel
anführt, kommt er zu dem Schlusse, dass die Kornilowa in der ersten
Zeit ihrer Schwangerschaft in einem gewissen Sinne unzurechnungsfähig
war, wie etwa gewisse Wahnsinnige mit grosser Schlauheit und vollem
Bewusstsein Dinge thun, welche sie dennoch nur im Wahnsinn be-
gehen. Ein sehr scharfsinniges Argument für diese Behauptung ist die
Entgegenstellung des verbrecherischen Gedankens und der verbrecheri-
schen That. Auf den Einwand, sie habe doch gar keine aussergewöhn-
lichen Gelüste befriedigt, keine verblüffende Handlung vollführt, die
eine normale, erbitterte Person nicht auch hätte vollbringen können,
antwortet Dostojewsky:
»Es hätte sich z. B., wäre sie normal gewesen, Folgendes er-
eignet: Als sie, nachdem sie der Mann geprügelt hatte, allein mit der
Stieftochter geblieben war, da hätte sie im bitteren Groll bei sich ge-
dacht: ‚Wie wäre es, wenn ich dieses Kind aus Rache gegen ihn
aus dem Fenster würfe?‘ Das hätte sie gedacht — aber nicht ge-
than. Sie hätte im Geiste gesündigt, aber nicht durch die That. Jetzt
aber, in ihrem Zustande, ist sie bloss hingegangen und hat es
gethan.«
»Hier hätten die Richter doch einen Anhaltspunkt für ein milderes
Urtheil gehabt,« meint der Dichter weiter, »wenn sie schon irrten, so
war es besser, nach der Seite des Erbarmens zu irren als nach jener
der Strenge. Denn sie selbst, die Verbrecherin ist die Erste, welche
sich schuldig fühlt, sie eilt, die Anzeige zu machen, sie wird wohl auch
nach Sibirien mit der schweren Last ihrer Schuld als eine gerecht Ge-
strafte gehen, sie wird auch wohl so sterben und in ihrer letzten
Stunde in Reue und Leid ihre Seele für verloren halten. Und nicht
eine Ahnung wird ihr, ja auch Niemandem auf der Welt beikommen
von irgend einem krankhaften Affecte, welcher in der Schwangerschaft
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 218, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0218.html)