Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 219

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 219

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DOSTOJEWSKY ÜBER STRAFPROCESSE. 219

auftreten kann; dieser aber war an Allem schuld, und wäre sie nicht
in diesem Zustande gewesen, so wäre nichts vorgefallen.« Des Weiteren
schildert der Dichter mit lebhaften Farben die Folgen, die ihre Ver-
urtheilung für die Zukunft des Kindes haben müsse, das sie, im Ge-
fängniss geboren, nach Sibirien mitnehmen werde, um es aufzuziehen,
das aber, da jede Verurtheilung und Deportation die Ehe auflöse, ein
vaterloses Kind bleiben werde. »Ich betone,« schliesst der Dichter,
sein Plaidoyer, »ich wette, der Mann wird sie in dieser Zeit vor dem
Aufbruch im Gefangenhause besuchen, vielleicht gar, wer weiss es, das
hinausgeworfene Mägdlein an der Hand. Da werden sie von den aller-
gewöhnlichsten Dingen reden, von irgend einem armseligen Stück
Leinwand, von warmen Schuhen oder Filzstiefeln für die Reise. Wer
weiss es, vielleicht werden sie einander in der herzlichsten Weise be-
gegnen, jetzt, da man sie getrennt hat, während sie früher nur immer
stritten, vielleicht wird eines dem anderen kein Wort des Vorwurfes
sagen, sie werden vielleicht über ihr Schicksal seufzen, eines das andere
und jedes sich selbst beklagend.« Bis in das kleinste Detail schildert
Dostojewsky die Abschiedsscene, und wir fühlen, wie hier der Dichter
und Psychologe dem Vertheidiger zu Hilfe kommt.

Das Verfahren ist nach des Dichters eindringlichen Vorstellungen,
in Wort und Schrift wieder aufgenommen worden. Man hat das Warte-
personal auf das Genaueste über das Benehmen der Kornilowa einver-
nommen und dabei erfahren, dass sie von der zweiten Hälfte ihrer
Schwangerschaft an sanft, liebreich und voll heisser Reue gewesen
sei. Kurz, der Freispruch erfolgte unter Acclamation und Freudenthränen
der Zuhörerschaft. Der Dichter, welcher schon früher den Gatten über
seine Bereitwilligkeit befragt hatte, das Weib zu sich zu nehmen, sie
ohne Vorwürfe in seinem Hause zu empfangen, bleibt für längere Zeit
Zeuge ihres Zusammenlebens.

Allein er thut dies nicht nur aus Theilnahme, sondern weil er
sich als Staatsbürger dem Gesetze gegenüber verpflichtet fühlt, einen
Beschluss nicht leichtfertig herbeigeführt zu haben, dessen ungerecht-
fertigte Wiederholung von den übelsten Folgen sein müsste. Er ist
ausserdem veranlasst, seine Beobachtung des einträchtigen, ja »ge-
heiligten« Zusammenlebens der Eheleute fortzusetzen und darüber zu
schreiben, weil er öffentlich von verschiedenen Seiten als Kinderfeind
angegriffen wird.

Der zweite Fall, welchen Dostojewsky beleuchtet, ist für ihn sowohl
durch das Moment der Schuld als durch das Verhalten der Richter
bedeutsam, welche, von der plumpen Vertheidigungsrede des Advocaten
sowie von der keine Variation oder Nuance zulassenden Fragestellung
geleitet, den Freispruch verkünden. Auch er, der Dichter, hätte die
Verbrecherin nicht verurtheilt, allein aus sehr verschiedenen Gründen,
als jene der Richter waren. Es handelt sich um einen Mordversuch,
den eine Schauspielerin an der Gattin ihres Liebhabers, des Impresarios
der Truppe, begeht, welcher sie als Mitglied angehört. Hören wir
Dostojewsky selbst:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 219, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0219.html)