Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 211
Text
Erzählung von Holger Drachmann.
Autorisirte Uebertragung aus dem Dänischen von Carl Küchler.
(Fortsetzung.)
Zweiter Brief.
Der erste herrliche Augustmorgen und das erste Bad! Unleugbar:
wenn das Gute hierzulande einmal kommt, dann kommt es auch ordent-
lich, und man braucht sich nicht darüber zu beklagen.
Hinauf durch das kleine Nest, dessen gelbe Giebel in der Vor-
mittagssonne stark glänzen! Die Plankenzäune der Gärten werfen dunkel-
blaue Schatten über den weissen Weg, den man hier Strasse zu be-
nennen pflegt. Es ist nirgends Jemand zu sehen. Die Fischer und
Schiffer sind drunten am Hafen, wo man am Ende eines Gässchens die
beiden zum Gasthofe gehörigen Badehäuser erblickt.
Ich stieg ununterbrochen durch das Dorf aufwärts und kletterte sozu-
sagen den Fussweg hinan, den man, wohl etwas rücksichtslos gegen Spazier-
gänger, gerade am steilsten Abhänge der waldigen Höhe emporgeführt
hatte. Heute half wahrscheinlich das Bad; dann ich empfand die Stei-
gung weniger, war bei ungewöhnlich guter Laune, beinahe gedankenlos,
freute mich über ein Nichts und war bereit zu Allem; es war mir
gerade, als stünde ich noch in den Zwanzigern.
Ich hätte diesen Duft, der mir vom Walde her entgegenschlug,
mit offenen Armen begrüssen können; ich that es vielleicht auch —
aber ich wendete mich nicht um, um zu sehen, ob es Jemand be-
merken könnte. In diesem Augenblicke fiel mir ein, dass ich, ehe ich
in den Wald ging, eigentlich auf Heinrich hätte warten sollen. Und
doch, vielleicht nicht! Mir war so unaussprechlich wohl zu Muthe,
dass es unter solchen Umständen nicht immer gesagt ist, dass man
sich zu Zweien besser vergnügt — wenigstens nicht, wenn die Beiden
Freunde sind.
Ich wählte aufs Gerathewohl einen Fusssteig, der mich recht tief
hinein in den Wald führen könnte, und so schritt ich vorwärts, meinen
Stock schwingend und Gott weiss welche Melodie gerade vor mich
hinsummend. Hier fand ich ja Alles, was man sich nur wünschen
konnte. Sonnenschein, der hie und da in einzelnen lichten Flecken
durch das Laub auf den Boden fiel, spielend und phantasieverlockend
wie einer der bekannten bunten Vögel, die sich in jedem Märchen
einfinden und den wandernden Gesellen verführen, immer weiter zu
gehen. Na, mich mochten sie meinethalben gern verlocken: ich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 211, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0211.html)