Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 220
Text
»Was mich betrifft, so bin ich geradezu froh, dass man sie hat
laufen lassen, obwohl ich nicht ein Jota an ihre geistige Unzurechnungs-
fähigkeit glaube, was auch die Experten sagen mögen.«
»Nur bin ich nicht froh darüber, dass man sie freigesprochen hat.
Mag das nun schon einmal eine persönliche Ansicht sein; ich bleibe
nun einmal dabei, dazu thut mir diese Unglückliche, ohne verrückt zu
sein, noch mehr leid; im Wahnsinn wusste sie nicht, was sie that —
ohne Wahnsinn aber — geht nur hin und ladet euch solche Qualen
auf! Ein Todschlag ist — ausser von einem Coeurbuben1) unter-
nommen — eine schwere und complicirte Sache. Diese paar Tage der
Unentschiedenheit, welche die Kairowa nach der Ankunft der gesetz-
lichen Gattin hat durchleben müssen, diese immer mehr und mehr
erglühende Kränkung, diese mit jeder Stunde wachsende Beleidigung
(allerdings ist sie die Beleidigerin, ich bin noch nicht von Sinnen, aber
das ist das Schmerzliche, dass sie in ihrem tiefen Fall es auch nicht
einmal begreifen konnte, dass sie es war, sondern immer das Gegen-
theil meinte) und endlich diese letzte Stunde vor der That, in der
Nacht, da sie auf den Stiegenstufen sitzt, das Rasirmesser in der Hand,
das sie am Vorabend gekauft — nein, das Alles ist schon schwer
genug, namentlich für eine so unordentliche, hin und her geworfene
Seele. Hier ist eine Last, welche über die Kraft geht, und man hört
etwas wie das Stöhnen eines Erdrückten. Und überdies zehn Monate
Untersuchungshaft, Irrenhäuser, Expertisen und wie viel hat man sie
herumgeschleppt und geschleppt! Und bei alledem stellt diese arge,
durchaus schuldige Verbrecherin etwas vor, das so gar nicht ernst zu
nehmen ist, etwas so Zusammenhangloses, etwas, das nichts begreift,
etwas Leeres, Unfertiges, sich Preisgebendes, sich nicht Beherrschendes,
etwas so Mittelmässiges — und das bis zur letzten Minute — so dass
es geradezu Alle erleichterte, als man sie laufen liess. Schade nur,
dass man das nicht konnte, ohne sie von der Schuld freizusprechen.
Was wäre dies aber für ein Scandal gewesen. Der Herr Rechtsanwalt
hätte wohl, denke ich, die Freisprechung ahnen und sich daher auf
die Hinstellung des Factums beschränken können; aber er hätte sich
nicht auf eine Lobrede des Verbrechens einlassen dürfen, denn er
lobte geradezu das Verbrechen. Das ist’s ja, dass wir niemals
ein Mass haben.«
»Im Westen ist die Darwinsche Theorie eine geniale Hypothese,
bei uns schon lange ein Axiom. Im Westen hat der Gedanke, dass
das Verbrechen sehr oft nur eine Krankheit ist, einen tiefen Sinn,
weil man dort streng unterscheidet; bei uns hat es gar keinen
Sinn, weil man gar keine Unterscheidung macht, und Alles, jede Greuel-
that, die verübt wird, sei’s auch durch einen Coeurbuben — auch die
wird fast als Krankheit betrachtet und — man sieht leider sogar etwas
Liberales darin! Es versteht sich, dass ich hier nicht von ernsten
1) Benennung eines gewissen auf Mord und Todschlag eingeschworenen
Falschmünzerverbandes.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 220, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0220.html)