Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 221
Text
Menschen spreche. (Gibt es übrigens viele in diesem Sinne ernste Leute
bei uns?) Ich spreche von den Leuten der Strasse, von der talentlosen
Mittelmässigkeit einerseits, andererseits von den Schlauköpfen, die
mit dem Liberalismus Handel treiben und denen unbedingt Alles
einerlei ist, wenn es nur liberal ist oder so aussieht. Was nun den
beeideten Rechtsanwalt anlangt, so hat er das ‚Verbrechen gelobt‘,
wahrscheinlich in der Annahme, dass er als bestellter Rechtsfreund
nicht anders handeln konnte; so also lassen sich unbestreitbar gescheite
Leute hinreissen, und es kommt dabei als Resultat etwas durchaus
nicht Gescheites heraus. Ich denke, dass, wären die Geschworenen in
einer anderen Lage gewesen, d. h. hätten sie die Möglichkeit gehabt,
einen anderen Rechtsspruch zu fällen, so würden sie wohl über diese
Uebertreibungen des Herrn Anwalts so böse geworden sein, dass dies
gerade seiner Clientin Schaden gebracht hätte. Allein die ganze Sache
bestand gerade darin, dass sie buchstäblich keinen anderen Urtheils-
spruch fällen konnten. In der Presse haben sie die Einen um dieses
Rechtsspruches willen gelobt, die Anderen getadelt. Ich denke, hier ist
weder Lob noch Tadel am Platze. Sie haben einfach so entschieden,
weil es ihnen unbedingt unmöglich war, anders zu entscheiden. Urtheilet
selbst. Hier der Zeitungsbericht:
»Auf die übereinstimmend mit der Anklage gestellte Frage des
Gerichtshofes: ‚Hat die Kairowa mit Vorbedacht der Alexandra
Wjelikanowa in der Absicht, sie zu ermorden, mit dem Rasir-
messer einige Wunden am Halse, am Kopfe und an der Brust bei-
gebracht und ist sie an der weiteren Ausführung dieser That, die
Wjelikanowa zu tödten, durch die Wjelikanowa selbst und ihren Gatten
gehindert worden?‘ haben die Geschworenen verneinend geantwortet.«
»Bleiben wir hier stehen« — fährt nun Dostojewsky fort — »dies
ist die Beantwortung der ersten Frage. Nun, kann man auf eine so
gestellte Frage antworten? Wer, wessen Gewissen wird eine solche
Frage bejahend beantworten? (Allerdings kann man hier auch kaum
verneinend antworten, allein wir sprechen nur von dem Ja der Ge-
schworenen.) Hier, auf diese Frage bejahend antworten könnte man
nur, wenn man mit einer übernatürlichen, göttlichen Allwissenheit be-
gabt wäre. Ja, der Kairowa selbst konnte dies ganz unbekannt sein:
würde sie bis zu Ende schneiden oder nicht? Die Geschworenen hat
man aber doch gefragt, ‚ob sie weiter geschnitten hätte oder nicht,
wenn man sie nicht daran gehindert hätte?‘ Ja, obwohl sie am
Vorabende das Messer in der Absicht gekauft hatte und wusste,
wozu sie es gekauft habe, so kann es doch sein, dass sie nicht wusste,
ob sie weiter schneiden werde oder nicht und ob sie es zu Ende
führen werde oder nicht. Am allerwahrscheinlichsten ist es, dass sie
darüber auch nicht ein Wörtchen wusste, als sie auf der Stiege sass,
das Messer in der Hand, und hinter ihr, auf ihrem Bette, der Lieb-
haber mit der Nebenbuhlerin lagen. Niemand, Niemand auf der Welt
konnte darüber ein Wort wissen. Ja, nicht genug an dem; obwohl
es wie eine Abstraction aussehen wird, behaupte ich, dass sie es mög-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 221, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0221.html)