Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 222
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licherweise, als sie schon schnitt, nicht wusste, ob sie den
Hals ganz durchschneiden werde oder nicht, und ob sie zu diesem
Zwecke an ihr herumschneide. Beachtet nur, dass ich damit
durchaus nicht meine, sie sei in einem Zustande von Bewusstlosigkeit
gewesen; ich lasse auch nicht die geringste Sinnesverwirrung zu. Im
Gegentheil! In dem Augenblicke, als sie schnitt, wusste sie, dass sie
schneide, aber ob sie, nachdem sie sich dieses Ziel gesetzt,
ihrer Rivalin das Leben nehmen werde — das konnte ihr im höchsten
Grade unbekannt sein und, um Gottes Willen, haltet das nicht für ein
Absurdum, sie konnte in Zorn und Hass darauf losschneiden ohne an
die Folgen zu denken. Nach dem Charakter dieser unordentlichen und
gequälten Person zu urtheilen, war dies auch aller Wahrscheinlichkeit
nach der Fall. Und bedenket, dass von der Antwort der Geschworenen,
wenn sie z. B. bejahend ausgefallen wäre: ‚dass sie es vollbracht hätte
und, was die Hauptsache ist, dass sie es in der unabänderlichen Ab-
sicht zu tödten gethan hätte‘, das ganze Schicksal der Unglücklichen
abhängen musste. Das heisst also Verderben, das heisst Zuchthaus.
Wie sollen denn die Geschworenen eine solche Verantwortung über-
nehmen? Sie antworten also mit ‚Nein‘, weil sie ihre Antwort auch
nicht anders variiren können. Ihr werdet sagen, dass dieses Ver-
brechen der Kairowa kein ausgeklügeltes, kein Kopf-, kein Buch-
verbrechen war, sondern ganz einfach eine ‚Weibergeschichte‘ —
durchaus nicht complicirt, durchaus einfach, dass ja überdies ihre
Rivalin auf ihrem (der Kairowa) Bette lag. So glaubt ihr, so einfach
sei es? Wie aber, wenn sie, nachdem sie einmal mit dem Rasier-
messer über den Hals der Wjelikanowa leicht hingefahren wäre, selbst
aufgeschrien hätte? Woher wisst ihr, dass sich das nicht ereignen
konnte? Und ereignete es sich, so war es leicht möglich, dass gar
nichts davon zum Gericht gedrungen wäre. Wie aber dann, wenn sie
noch einen Schnitt in den Hals der Wjelikanowa gethan hätte, er-
schrocken wäre und sich selbst den Hals abgeschnitten hätte? Und
wie endlich, wenn sie nicht nur nicht erschrocken, sondern im Gegen-
theile, als sie das heiss aufspritzende Blut gefühlt, wie besessen ge-
worden wäre und der Wjelikanowa nicht nur den Hals vollends durch-
schnitten, sondern noch, gegen den Leichnam wüthend, den Kopf, die
Nase, die Lippen abgeschnitten und erst wenn man ihr diesen Kopf
entrissen, wahrgenommen hätte, was sie gethan? Ich frage so, weil
alles dieses sich hätte ereignen und doch aus einer und derselben
Person entstehen können, aus ein und derselben Seele, aus einer und
derselben Stimmung, unter den nämlichen Umständen.«
Wir haben die Erörterung dieses Processes so ausführlich wieder-
gegeben, weil er besonders geeignet ist, alle eben dargelegten Kern-
punkte der Dostojewsky’schen Anschauung klar zu beleuchten. Hier
ist keinerlei Belastung oder Sinnesverwirrung der Verbrecherin anzu-
nehmen — es wird ihr die volle Verantwortung ihrer That auf die
Schultern gelegt, sie ist schuldig — dennoch eine Unglückliche, weil
sie schuldig ist. Der Urtheilsspruch wird von jenen Motiven geleitet,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 222, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0222.html)