Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 223
Text
die allerdings mehr durch die hölzerne, nicht nuancirte Fragestellung,
als durch die Uebertreibungen des »gescheiten Anwalts, der doch
dumm ist«, nach der Seite des »mitleidigen Irrthums« umgebogen
werden. Und dennoch, und über allem diesem ist des Dichters
Argumentation von jenem Mysticismus gleichsam durchädert, welchen
er Allen, die da richten, eingiessen möchte und dem wir auch an jener
Stelle in den »Brüdern Karamasow« begegnen, wo Dmitri vor Gericht
seine Gedankenschuld, die Absicht, den Vater zu tödten, bekennt, aber
auf die eindringenden Fragen, warum er es dann im entscheidenden
Augenblick unterlassen habe, nachdenklich innehält und endlich sagt:
Ich weiss nicht, es muss wohl meine Mutter eben für mich gebetet
haben.
Dostojewsky widmet den Abgeschmacktheiten und Plumpheiten
des Anwalts ein ganzes Capitel voll beissenden Sarkasmus und schliesst
folgendermassen: »Der Herr Vertheidiger hat am Ende seiner Rede ein
Citat aus dem Evangelium auf seine Clientin angewendet: ‚Ihr wird viel
vergeben werden, denn sie hat viel geliebt.‘ Das ist natürlich sehr nett,
umsomehr, als der Herr Vertheidiger sehr gut weiss, dass Christus der
‚Sünderin‘ nicht um einer solchen Liebe willen vergeben hat.
Ich halte es für eine Schweinerei, dieses grosse und rührende Wort
des Evangeliums hier beizuziehen. Zugleich kann ich nicht umhin, eine
von mir schon früher gemachte sehr kleine, aber ziemlich charakte-
ristische Beobachtung auszusprechen. Diese Bemerkung bezieht sich
natürlich nicht im Geringsten auf den Herrn Anwalt. Ich habe nämlich
schon in meiner Kinderzeit bemerkt, aus meiner Junkerperiode her,
dass sich bei vielen Halbwüchsigen, bei Gymnasiasten (bei manchen),
bei Junkern (hier schon mehr), bei ehemaligen Cadetten (hier am
öftesten) thatsächlich aus irgend einer Ursache schon in der Schule
die Auffassung eingewurzelt hat, dass Christus der Sünderin eben nur
dieser Liebe willen vergeben hat, d. h. dass er gerade um ihrer Frei-
zügigkeit oder, besser gesagt, ihrer intensiven Freizügigkeit willen Er-
barmen mit der sozusagen anziehenden Schwäche hatte. Diese Ueber-
zeugung trifft man auch heute bei sehr Vielen an. Ich erinnere mich,
dass ich mir ein-, zweimal ernstlich die Frage vorgelegt habe, warum
denn diese Bürschlein so geneigt sind, jene Stelle des Evangeliums nach
dieser Richtung hin zu deuten? Belehrt man sie so unachtsam über
Gottes Gebote? Aber die übrigen Stellen des Evangeliums verstehen
sie ja doch ziemlich richtig! Ich kam endlich zu dem Schlusse, dass
hier wahrscheinlich Ursachen sozusagen mehr physiologischer Natur
mitwirken; bei der unzweifelhaften Gutmüthigkeit des russischen Jünglings
ist hier wohl auch jene Ueberfülle junkerlicher Kräfte irgendwie in
Thätigkeit, welche der Anblick jedes Frauenzimmers in ihm aufruft.
Ich wiederhole, dass der Herr Anwalt natürlich vortrefflich weiss, wie
man diesen Text auszulegen hat, und es ist für mich kein Zweifel, dass
er am Schlusse seiner Rede einen Scherz gemacht hat, aber warum —
das weiss ich nicht.«
(Schluss folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 223, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0223.html)