Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 214
Text
doch zu beschuldigen pflegt, heimlich französische Romane lesen —
und am allermindesten im Originale! Sie sind durch ihres Herrn Papas
Zeitung so eingeschüchtert und haben nichts im Leben draussen erlebt,
was ihre Furcht auf Kosten ihrer Wohlerzogenheit überwinden könnte.
Sie reissen nicht zu irgend welchen Thorheiten ernsterer Natur hin —
sie werden selbst nicht hingerissen; sie verzehren keine junge Kraft in
ihrer Durchbruchszeit — sie lassen sich selbst nicht verzehren. Sie
ziehen fort von daheim als Gouvernanten, verloben sich und werden
vortreffliche Mütter, oder resigniren und werden etwas bittere Tanten.
Wir kennen sie. Ehre sei ihnen! Aber das war nicht die »eine«.
Nein, das war die Andere. Und das konnte unmöglich eine
Andere sein als die von neulich Abends! Ich sah ja ihren Nacken
die Stellung ihres Kopfes zu den Schultern, die Bewegungen ihrer
Seiten und ihrer Arme während ihres Ganges. Ich konnte mich nicht
irren. Man verräth sich stets am sichersten von hinten. Es ist einem
Jeden gegeben, die Augen niederschlagen, das Gesicht verstellen zu
können, es bei einem unvermutheten Zusammentreffen mit einem Schleier
oder dem Schatten seines Hutes zu verbergen. Aber was soll man mit
seinem Nacken, seinem Rücken, seinen Hüften thun? Selbst über die
»freien« Bewegungen unserer Arme vermögen wir uns nicht recht zu
Herren zu machen, wenn wir es auch manchmal noch so sehr wünschten.
Sie hier bewegte sich auf eine eigene — wie soll ich es nur
gleich nennen? — musikalische Weise, die ich mir unter Tausenden
wiederzuerkennen getrauen würde, aber deren Eindruck durch irgend
eine Beschreibung mitzutheilen mir schwerer fallen dürfte. »Ein
wiegender Gang«, diesen Ausdruck braucht man allzu oft; und Alles
in Allem, steht der Gang eigentlich in einem rationellen Verhältnisse
zum Temperament? Oder ist es nicht vielmehr der Bau der unteren
Extremitäten, was das Bestimmende ist ?
Ich bitte Dich um Verzeihung, Morten. Bei meinen Versuchen,
mich der ganzen Sache zu entziehen, gewinnt es ja fast den Anschein,
als wären es Pferde, von denen ich spreche.
Ich will denn also sagen, dass sich auf dem sich dahinwindenden
Waldpfade vor mir eine Musik, eine Melodie hinbewegte, die mich in
einem Augenblicke des Zusammenhanges mit mir selbst beraubt hatte.
Und dann verschwanden beide Damen.
Das war also die, welche Heinrich Ich hatte den Gedanken noch
nicht einmal ganz zu Ende gedacht, da fuhr es mir wie ein Stich durchs Herz.
Ich entdeckte, dass es mir nach jenem Blicke von ihr nicht
mehr ganz angenehm war, seinen Namen in Verbindung mit ihr zu setzen.
Ich entdeckte ferner, dass der Wald, als ich jetzt langsam meinen
Rückzug durch ihn antrat, Farbe, Duft und jene mystische Anziehung
verloren hatte, die sicher ein sorgenfreies Gemüth voraussetzt. Die
feinen Spinnweben genirten mich, und die Mücken stachen.
Ich gelangte zurück auf mein Zimmer. Es war warm dort. Heinrich
war nicht zu Hause und wollte ewig nicht kommen. Ich wollte arbeiten,
aber ich konnte nicht; ich wollte lesen, aber ich hatte keine Lust
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 214, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0214.html)