Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 234

Johannes (Wengraf, Richard)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 234

Text

JOHANNES.
Ein Beitrag zur Geschichte der Reclame und des Snobismus.
Von Richard Wengraf (Berlin).

Habent sua fata libelli. Die Bücher und die Büchlein haben ihre
Lebensschicksale, und es ist nur bedauerlich, dass diese Schicksale oft
weitaus das Interessanteste an den Büchern sind. Aber auch die Theater-
stücke haben ihre Geschicke, und je mehr ein Stück davon erfahren
hat, um so besser ist es — nicht für das Drama, sondern für
den Director und den tantièmenfrohen Autor. Ein ganz besonderer
von Bühnenleitern und Autoren mit Recht geschätzter Glücksfall ist
es, wenn ein Stück von der Censur verboten und später freigegeben
wird. So kann die Censur der Dichtkunst fördernd unter die Arme
greifen, und wem der Herr Polizeipräsident wohl will, den züchtigt er —
mit Aufführungsverboten. Nur sollte die Censur etwas sparsamer mit
ihren Reclamemitteln umgehen, denn am Ende wird das Stück ja doch
gegeben, und es zeigt sich dann oft, dass die Aufführung mindestens
ebenso überflüssig war wie das Aufführungsverbot.

Einen neuen Beweis für diese alte Thatsache erbrachte die
jüngste Première des Deutschen Theaters,1) Sudermann’s »Johannes«.
Berlin ist, wenn auch keine Theater-, so doch eine Premièrenstadt
ersten Ranges. Es ist die Stadt der »Bomben«-Erfolge und der »schmach-
vollen« Niederlagen, die Stadt des Theaterradaus par excellence. Und
zu einer Sudermann-Première geht der Berliner stets in der angenehmen
Erwartung, zischend oder klatschend Literaturgeschichte zu machen
oder wenigstens machen zu hören. Gespannter als je sah das Publicum
dieser Erstaufführung entgegen. Seit die Johannestragödie durch
ministerielle Entscheidung freigegeben worden war, lautete die erste
Frage, wenn zwei Bekannte sich trafen: »Haben Sie schon ein Billet?«
Man fügte gar nicht mehr hinzu »zum Johannes«, denn wozu hätte
man auch sonst ein Billet haben sollen? Eine Woche vor der Aufführung
waren in der Directionskanzlei des Deutschen Theaters 15.000 An-
meldungen eingetroffen, und für fünf Vorstellungen war das Haus im
Vorhinein ausverkauft. Das sind Cassenerfolge, wie sie weder Henrik
Ibsen noch Gerhart Hauptmann je zu verzeichnen hatten. Endlich kam
der grosse Samstag. »Johannes«, Tragödie in fünf Acten und einem
Vorspiel, stand auf den Placaten zu lesen, darunter ein Verzeichniss
von beinahe vierzig Personen. Und es ward Abend, und ganz Berlin
strömte in die Schumannstrasse und auf jedem dritten Platze fast eine


1) 15. Jänner 1898.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 234, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0234.html)