Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 235
Text
Berühmtheit. Und es ward sieben Uhr, und das Glockenzeichen er-
tönte. Der Vorhang hob sich, und ganz Berlin W. hatte das Gefühl,
Zeuge eines gewaltigen Ereignisses zu werden.
Und dann liess man sechs lange Acte vier Stunden lang an
sich vorüberschleichen — denn es waren sechs Acte und das Vor-
spiel seiner Länge und seinem Wesen nach nichts als ein verkappter
erster Act.
In der Behandlung des Stoffes hat sich Sudermann ängstlich an
die biblischen Quellen — die Bücher der Evangelisten — angeschlossen.
Es ist dem ausgezeichneten Theatraliker nicht geglückt, die durchaus
epische Handlung bühnenwirksam zu dramatisiren. Wer die Geschichte
des Täufers und Hermann Sudermann selbst kannte, der konnte
niemals glauben, dass der »Johannes« ein dramatisches Kunstwerk sein
werde. Man hatte keine Tragödie erwartet, aber doch ein Theater-
stück. Und nun ist Sudermann beides schuldig geblieben. Nur die
Scene zwischen Johannes und der Familie des Herodes, vornehmlich
die Schlussscene des zweiten Actes mit der Herodias und Salome
wirkten, sonst zersplitterte das raffinirte Bühnentalent an der schlichten
Wucht und Grösse des Stoffes. Hermann Sudermann hat sich mit
seinem »Johannes« auf ein Gebiet gewagt, das seinem Können ferner
liegt als irgend ein anderes. Dazu beging er den unbegreiflichen
Fehler, seine Menschen ein mit Nietzsche-Phrasen schwach versetztes
Bibeldeutsch reden zu lassen und so jede Illusion zu zerstören. Vor
einem Jahrhundert wäre das vielleicht die einzig richtige Sprache für
ein Bibeldrama gewesen. Die heutige Generation, so weit sie das
Theater besucht, wurzelt nicht mehr fest genug in der Schrift, um
dieses Deutsch auf der Bühne wahrscheinlich zu finden. Ein geschickter
Einfall, wenn auch ein unhistorischer und durchaus unkünstlerischer
war es, eine komische Figur ganz correct »mauscheln« zu lassen. Oder
haben in Jerusalem die Juden »gemauschelt«, wenn sie komisch genommen
werden wollten?
Die opernhafte Behandlung der Volksscenen endlich machte alle
Scenen unerträglich, die nicht unmittelbar der Fortführung der dürftigen
Handlung dienen; diese wiederum wurden einzig und allein durch die
unvergleichliche Kunst Reicher’s (Herodes) wie der Damen Sorma
(Salome) und Dumont (Herodias) belebt. Kainz litt unter der Rolle
des declamirwüthigen Propheten.
Als endlich der Vorhang zum sechstenmale fiel, hatte sich
Berlin W. für theueres Geld — am Freitag notirten Parquetsitze
100 Mark — ganz gewaltig gelangweilt, und am Sonntagmorgen
lasen jene, so da keine Sitze bekommen hatten, die Recensionen und
freueten sich gar sehr.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 235, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0235.html)