Text
Von Max Messer (Wien).
Es war Mitternacht. Die Stunden verrannen. Sie konnte nicht
schlafen. Sie drückte sich in das breite Polster.
Es wurde immer heisser um sie. Sie suchte einen kühlen Fleck
auf dem Polster. Vorsichtig drehte und hob sie den Kopf. Wenn ihre
brennenden Wangen an die von ihren Thränen benetzten Stellen des
Polsters rührten, lief ihr ein langer Schauer durch den Körper. Ganz
umwenden durfte sie es nicht — o, er hätte es hören können. Wie
durfte sie seinen ruhigen Schlaf stören!
Die tiefe Finsterniss hatte sich wie eine Wand zwischen sie und
ihn geschoben. Sie sah nichts von ihm. Wäre sie taub gewesen, so
hätte sie sich frei und einsam dünken können. Aber sie hörte seinen
gleichen, festen Athem.
Neben ihr lag etwas Lebendes, das die Luft langsam aus- und
einzog.
Einige Secunden lang suchte sie diese Vorstellung mit Gewalt
in sich zu erhalten: ein Ungewisses, ruhig Athmendes, Fremdes läge
da, nicht ihr Mann. Die Hallucination gelang ihr auf kurze Zeit, dann
verschwand sie. Im Geheimen hatte sie gehofft, sie werde darüber
einschlafen. Sie konnte nicht schlafen. Hätte sie sich wälzen dürfen
oder aufstehen und sich abkühlen oder sich am halboffenen Fenster
hinauslehnen: Es war ja eine warme Sommernacht. Sie erschrak vor
dem Gedanken So war es nur ein athmendes Nichts, das sie zurück-
hielt. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie sich einbilden, es sei ein
Kind oder ein Thier oder irgend ein Lebendes. Aber hätte sie Lärm
gemacht — wehe ihr! Wie deutlich hörte sie seine tiefe, brummende
Stimme, die ihr dann mit irgend einem gemeinen Wort drohte — vielleicht
hätte er sie geschlagen wie damals — nein, sie durfte sich nicht
rühren.
Aber woher kam diese Hitze? — Vor zwei Stunden hatte es Streit
gegeben, und er sagte beim Niederlegen: »Wieder auf mein Schmerzens-
lager!« Das hatte sie empört. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich
so geschämt.
Sie lag wie in warmen, feuchten Tüchern. Die Wangen brannten
auf das nasse Polster, und das Hemd klebte an ihren Gliedern.
Sie musste etwas Zusammenhängendes denken. Das konnte vielleicht
helfen. Sie strengte sich an, sie suchte mit Gewalt die Bilder aus ihrer Er-
innerung aneinander zu stellen. Anfangs ging’s nicht recht. Immer zerriss
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 307, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0307.html)