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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 309

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FANNY. 309

ein Gefühl der Erniedrigung. Ja, sie freute sich sogar damals. Aber
der Kerl, der Kerl! Als sie den Stiefel kniend abgezogen hatte, stiess
er sie mit dem Fuss an. Sie fiel und hätte sich wohl verletzen können.
Andererseits, hatte sie ihn nicht böse gemacht, und war er nicht im
Recht? Sie hätte schon etwas Ordnung in den Zimmern machen können

Rührt da nicht Jemand am Fenster? Ein Dieb? — Sie schrie leicht
auf und richtete sich im Bett gerade. Entsetzt starrte sie auf das
Fenster. Sie spürte, wie ihr das Blut und die Hitze aus den Wangen
zurückströmten. Sie lauschte — nein, nichts.

O, Gott sei Dank! Er hatte nichts gehört, er schlief ruhig
weiter. Und jetzt sass sie und brauchte nicht zu liegen. Er schlief so
fest heute, man konnte es wagen. Sie streckte die Beine aus den
Decken und tastete nach dem Fussboden. Als sie ihn traf, erhob sie
sich. Mit ein paar Schritten war sie dort und öffnete das Fenster
ganz. Da knackte es. Ihre Seele schrie auf vor Angst. Wie hatte sie
das wagen können? Was für Tollheiten fielen ihr heute ein? Wenn,
wenn Aber der Mann hörte nichts, heute schlief er fest und gut.

Sie lehnte sich aus dem Fenster. Die Nacht war so dicht, dass sie
nichts vom Garten wahrnehmen konnte. Durch das schwarze Laub der
Bäume glitzerten ein paar gelbe Funken. Ihr Hemd war wie ein grauer
Schatten um sie. Die Luft war weich und kühlte ihre heisse Haut
langsam. Es schien ihr, als könnte sie ihren Kopf an sie lehnen.
Ah — —

Sie hörte jetzt seinen Athem kaum. Nur wenn sie hinhorchte

Aber Ella kam noch immer nicht zu Besuch. Sie hatte es doch
zweimal versprochen, und ihre Kinder sollte sie mitbringen. Das hatte
sie ausdrücklich erbeten, trotzdem er Kinder nicht liebte. Sie würde
es schon so einrichten, dass sie noch in die Stadt zurückführen, bevor
er kam. Sein Amt hielt ihn immer bis Abends beschäftigt. Sie sah
ihren Mann, ausser am Sonntag, nur in Lampenbeleuchtung. Merk-
würdig, seit ihrer Verheiratung hatte er noch keinen Tag im Bureau
versäumt. Sie hatten nicht einmal Hochzeitsreise gemacht.

Ella fragte sie einmal nach einer gleichgiltigen Conversation
plötzlich: »Liebst du deinen Mann?« Das hatte sie so erschüttert, und
sie gestand ihr damals Alles. Wie er zum erstenmal in ihr Haus gekommen
und ihr durch seine Ruhe, Sicherheit und seine weiten Erfahrungen
imponirt hatte. Als er ihr in seiner überlegenen, freundschaftlichen
Weise den Hof zu machen begann, merkte sie plötzlich, er wolle sie
heiraten. Sie besann sich nicht. Ihre Freundinnen waren alle ver-
heiratet. Eine an einen Bäcker, die Andere an einen Postbeamten, die
Dritte hatte einen Reisenden. Und sie sollte Frau Regierungsrath werden
können!

Ueberall erzählte man, er sei wohlhabend und habe noch grosse
Aussichten. Ihr Vater, der alt war und sein Geschäft nicht mehr leiten
konnte, weil er an Asthma litt und der Ruhe bedurfte, und die Mutter,
die aus den ärmsten Verhältnissen durch die Ehe mit dem Möbel-
händler emporgekommen war

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 309, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0309.html)