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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 310

Text

310 MESSER.

Ja, jetzt hatte sie schöne Kleider und ein reichliches Leben. Der
Mann war nach der Hochzeit streng und rücksichtslos mit ihr wie mit
einer Magd. Nur wenn Fremde da waren, zeigte er sich höflich und
liebenswürdig. Anfangs hatte sie auf ein Kind gehofft, dann liesse sich
ja Alles leichter ertragen. Aber es kam nicht.

Ella hatte sie oft getröstet: »Du liebst ihn nicht. Warum wehrst
du dich nicht gegen ihn?« Nein, das konnte sie nicht Das war es
eben, sie war ewig an ihn gebunden. Sie konnte ihm nicht einmal
widersprechen. Sie musste ihm gehorchen. Lächerlich, sich gegen seinen
Willen zu sträuben suchen! Er war ihr doch in Allem über. Hatte ihm
Jemand befohlen, das arme, ungebildete Mädchen zu nehmen? Er
konnte jede Andere und Bessere bekommen. Und war nicht die Marie,
die in ihren Mann so wahnsinnig verliebt gewesen, noch weit schlechter
daran? Der kam nicht mehr in die Wohnung, liess Frau und Kinder
fast verhungern, warf sein Geld an eine Geliebte weg!

Nein, sie musste ihm dankbar sein und ihm dienen. Einmal
würde sie ja doch frei sein, sie war ja um die Hälfte jünger Gott,
was für ein Gedanke? War es schon so weit mit ihr? Sie bat ihn im
Stillen um Verzeihung. Das verdiente er doch nicht. Manchmal war er
besser gegen sie, nur musste er die Laune haben. Mit dem Wirth-
schaftsgelde knauserte er nie. Sie konnte sich kaufen, was sie wollte.
Ob er ihr jetzt das Geld für das neue Kleid geben würde? Es musste
aus braunem Seidenstoff sein, und gelbe Spitzen würden wunderbar
dazu passen

Sie ging leise vom Fenster; ganz leise legte sie sich in ihr Bett.
Er athmete ruhig und fest. Das Stehen hatte sie ordentlich müde ge-
macht. Wie kam sie eigentlich auf den Gedanken, zum Fenster zu
gehen? Wenn sie sich nur nicht verkühlte, das Schlafen wäre doch
gescheiter gewesen.

Uebermorgen musste sie in die Stadt fahren. Die Schneiderin verlangt
zwar dreissig Gulden Façon. Aber elegant wird es sein. Schliesslich
ist es nicht gar so theuer. Er wird es schon zahlen. Nein, er ist nicht
so schlecht. Man muss ihm nur nachgeben und sorgfältig jeden Wunsch
erfüllen, den er äusserte. Dazu war sie doch seine Frau.

Es war gegen Sonnenaufgang, als sie einschlief. Das graue Morgen-
licht, das durch die Gardinen drang, schien auf zwei Menschen, die,
sich den Rücken zukehrend, dalagen und ruhig schliefen. Die gold-
blonden Haare der Frau fielen über das Polster auf die Bettkante. Er
weckte sie um acht Uhr und liess sich von ihr ankleiden. Sie sah
gelb aus, und ihr Gesicht hatte viele Falten. Er konnte sie gar nicht
ansehen, als sie gähnend vor ihm kniete und ihm die Schuhe anzog.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 310, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0310.html)