Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 339

Es war einmal (Wille, Bruno)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 339

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ES WAR EINMAL. 339

wischte das Weib und zertrat mit dem Holzschuh den dicken Kopf —
der auf einmal ein Bowist war, und stäubend zerplatzte die Hexe!

Und weisst du noch, wie du zwischen Adlerfarren am moosigen
Ranfte des Fliesses sassest und mit dem Messer, das du spielend her-
vorgezogen, die Baumrinde nicht verletzen wolltest, um der Erle nicht
weh zu thun? Und wie das murmelnde Wässerlein erzählte, es sei die
Prinzessin Undine, und du könntest sie erlösen? Suche das rechte
Wort — flüsterte sie. Und du nahmst dir inbrünstig vor, zu suchen,
und wünschtest dir viel, viel Bücher; die wolltest du alle lesen, um
zu finden das rechte Wort

Und nun, grossgewordenes Kind, hast du die ganze Stube voll
Bücher und hast mächtige Sprüche gelernt. Doch nicht erlöst haben
sie Undinen und ihre Getreuen — nein, vollends verwunschen. Der
armen Seelchen Rest ist erstarrt. Undine ward ein bewusstloser Stoft
— der Mann mit der Brille nennt ihn H2O. Bäume und Büsche ver-
loren alles Empfinden und können sich nicht mehr kümmern um dich,
wenn du ihnen eröffnen möchtest dein einsames Herz. Sie spüren nicht
den Sonnenschein — nicht die lauen Wogen der Märzluft — nicht
einmal das Beil des Holzhauers. Trostlos öde ward’s in der Allnatur.
Mutterseelenallein gehst du nun durch die Kiefern — bloss von deinen
Hirngespinnsten begleitet.

Und wenn du Abends bei der Studirlampe sitzest, so sagt deine
Wissenschaft: Das traute Plätzchen am Erlenfliess, die nickenden
Farrenwedel, die Wachholderbüsche, die zwischen den hohen Kiefern
wie Kinder stehen — das Alles ist jetzt versunken in Nichts! Dahin
sind Farben und Formen — weil ja Augen und Sinne fehlen, sie zu
empfinden. Dort gibt es nur farblose Schwingungen des Lichtäthers
— Bewegungsgruppen — Dinge an sich — Wesen ohne Reiz und
ohne Seele. Und nur wenn ein Reh vorüberstreift, wenn ein hackender
Specht, ein kletterndes Eichhörnchen die Aeuglein auf diese öden
Dinge richtet, erhalten sie ein flüchtiges Scheinleben. Durch die Aether-
schwingungen wird dann der Sehnerv erregt — und so flackert wieder
einmal auf das liebe, buntgestaltige Waldbild. Es leuchtet im Hirne
des Thieres — eine Einbildung, nichts weiter. Und wenn das Thier
sich abwendet, dann ist wieder finster und formlos der Waldwinkel,
stumm und öde wie das Nichts

Da starrst du nun trübe dem Verlorenen nach, du greisenhaftes
Kind, und weisst nicht, wie du es zurückholen kannst. O, wie arm,
wie bettelarm hat dich deine Altklugheit, deine Ueberweisheit ge-
macht! Es war einmal — es war einmal!«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 339, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0339.html)