Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 342
Text
Während ich das schreibe, zwei oder drei Wochen später, sitze
ich beim Bach unter dem siebzig Fuss hohen Tulpenbaum, mächtig
im frischen Grün seiner jungen Reife — ein prachtvolles Ding —
jeder Zweig, jedes Blatt vollendet. Vom Fuss bis zum Wipfel schwärmt
es in Myriaden von diesen wilden Bienen, sie saugen den süssen Saft
aus den Blüthen, und ihr lautes, gleichmässiges Summen gibt den
Grundton zu dem Ganzen, zu meiner Stimmung und zu dieser Stunde.
All das will ich zu einem Schluss bringen, indem ich aus Henry
A. Beer’s kleinem Buche folgende Verse herausschreibe:
»Da still ich lag im hohen Gras,
Ein Hummelchen vorüberflog,
Vom Honigpünschlein schwer berauscht,
Das sie aus tausend Blüthen sog.
Ihr Bäuchlein ist ganz aufgebauscht
Vom Gaisblattmus, so dass es kaum
Zusammenhält ihr gold’ner Gurt.
In ihrem Seelchen hat nicht Raum
Die Liederfülle, die drin surrt.
Sie muss wohl ganz begeistert sein
Von Rosenschnaps und Erbsenwein;
Durchschwärmt die Nacht, die mild und lau,
Ihr dunkler Pelz ist feucht von Thau;
Dieweil sie schwelgt im Blüthenzelt,
Durch Schlaf und Schatten kreist die Welt.
Den süssen Nectar sog sie oft,
An Kelchen durstig hängend; seht!
Auf weichen Blumenblättern hofft
Sie neuen Trunk, und trippelnd geht
Im Staubgefässe-Labyrinth
Sie suchend auf und nieder;
Das Blättchen zittert leis’ im Wind —
Sie rollt hinein kopfüber,
Und krabbelt fort, bestaubt mit Gold.
Wo anders stösst sie’s Füsschen an,
An Knösplein stolpernd fällt sie, rollt
Und taumelt in das Gras.
Da lieg nun still und brummel
Mit deinem tiefen, sanften Bass,
Du arme, trunk’ne Hummel!«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 342, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0342.html)