Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 343

Der moderne Schicksalsroman (Hartwig, Th. J.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 343

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DER MODERNE SCHICKSALSROMAN.
Von Th. J. Hartwig (Wien).
I.

»In der Kunst entfaltet sich zuerst das Nothwendige, dann das
Schöne, dann das Ueberflussige«, sagt Winkelmann, und seine Schätzung
ist eine ästhetische und darum logische, das Publicum als naiver
Realist in der Kunst denkt nicht so schematisch und chronologisch
— die Literatur macht es deutlich: das Publicum empfindet das
Ueberflussige in der Kunst, erwartet das Schöne und fordert ge-
bieterisch das Nothwendige als Veranlassung seiner Empfindung und
Erwartung.

Das Nothwendige ist das Bedeutungsvolle, oder trivialer, das Ver-
wendbare. So wird die Literatur zur Schule des Lesers, das Theater
zum Bildungsinstitut für das thätige Leben. Denn der Betrachter und
Geniessende wird vor Allem träumen, dann sich besinnen und über-
legen, welcher Theil des Geschauten in das Bereich seiner Persönlich-
keit fällt und dadurch sein bleibendes Gut wird. Im Allgemeinen er-
kennt man als Folge dieser mehr unbewussten Thätigkeit der Assi-
milation eine Erhöhung der Bildung, Läuterung des Geschmackes
u. s. w. Die Summe dieser continuirlichen geringfügigen Veränderungen
aber wird bestimmend für unsere Daseinsempfindung und Lebens-
führung. So wirkt die im Roman oder auf dem Theater dargestellte
continuirliche Bewegung des Geschehens auf unsere im geschäftigen
Treiben des Alltags träge gewordene Empfindung antreibend, weit
über den Moment hinaus, als wir augenblicklich durch die Darstellung
nur mitbewegt waren. Und die Resonanz dieser Bewegung bricht
plötzlich scheinbar als Ausfluss unserer Eigenheit hervor, wenn wir in
einer sentimentalen Stunde nach dem Ausdruck einer tiefen Rührung
suchen oder in einem bedeutungsvollen Moment eine passende Geste
für eine bestimmte Wirkung benöthigen und in Erinnerung an einen
entsprechenden bildlichen oder lebendigen Vorgang entlehnen. So
agiren wir im Leben in erborgter Verkleidung und sind alle kleine
Napoleons, die mehr vorstellen wollen als sie sind und einen Talma
suchen, ihm Wort und Geberde abzulauschen. Bald scheinen uns
diese Aeusserlichkeiten so wichtig wie die dazu gehörigen grossen
Momente. Da sind wir aber noch die Besseren unter den Ver-
ständigen, denn wir sind Feinschmecker des Ueberflüssigen und des
Schönen. Nun aber die Kostgänger des Nothwendigen. Diese finden,
dass ihr trübseliges Leben nur aus einer Reihe von weit auseinander-
liegenden bemerkenswerthen Punkten besteht und suchen den Weg
zur logisch motivirten Aufeinanderfolge der Ereignisse. Diese finden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 343, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0343.html)