Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 344

Der moderne Schicksalsroman (Hartwig, Th. J.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 344

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344 HARTWIG.

sie im Roman und im Theater. Die Aufgabe des Autors besteht für
sie darin, unbedeutende Vorfälle des gewöhnlichen Lebens wesentlich
zu gestalten, um in der fortschreitenden Handlung ein Schicksal, d. h.
ein Continuum von Erregungen und Bewegungen zu entwickeln, das
dem gemeinsamen Dasein fehlt. Da leben sie mit, da leben sie erst
auf, das wirbelnde Treiben der Welt umgibt sie, »mit Himmlischen
füllt sich die irdische Helle«. Doch wenn der Morgen graut, bleibt
von der Dithyrambe des Lebens nur der Hauch einer sehnsüchtigen
Erinnerung. Und die Bedeutung ihres bescheidenen Schicksals ver-
liert neben der Grossartigkeit des vollkommeneren Erlebnisses im Roman.
So erhält dieser eine erhöhte Bedeutung und Strindberg behält Recht:

»Alles, worüber die Menschen Bücher geschrieben, ist überschätzt
worden.«

Und es ist selbstverständlich, dass, wie Frau Marholm findet, im
Roman mehr geliebt wird als im gewöhnlichen Leben. Man könnte
auch sagen, dass im Roman mehr gelebt wird. Denn, wo äussere
Handlungen fehlen, werden diese hinreichend durch grosse continuirliche
innere Bewegungen ersetzt, die der Alltäglichkeit fremd sind. In diesem
Sinne ist die Literatur mehr als Zeitvertreib für alle Jene, die das
Schicksal in dieser Surrogaten Darstellung suchen, da sie selbst nicht
Zeit oder Gelegenheit haben, das Schicksal auszukosten. Ein reich-
bewegtes oder schwerbedrücktes Leben muss darum nothwendigerweise
das Interesse an der Literatur abstumpfen und vielleicht sogar ver-
nichten, weil der Roman dann nur als eine massige Copie des Lebens
erscheint. Dagegen werden Jene, die zur Unthätigkeit gezwungen sind,
die Jugend und die Frauen, reiche Anregung im Theater und im Roman
finden. Ihre entwicklungsfähige Phantasie wird selbst an den gering-
fügigsten Erfahrungen ihres Schicksals mit dem matten Pulsschlag ge-
läutert und erfahrt eine Wandlung des Bedürfnisses, der in der Literatur
entsprochen wird. Von dem Zauber im Märchen weg verlangt die
reifere Phantasie zunächst nach dem Ideal eines Helden in Mythos.
Auf dieser Stufe stehen die Classiker und haben mächtiges Gefolge.
Der Held ist eine Idealgestalt, da er stets mit zureichenden Mitteln
auf äussere Ursachen reagirt. Dadurch kann er an einem bestimmten
Punkt in einen Widerstreit mit seiner inneren Veranlagung gerathen,
der, continuirlich entwickelt, als Schicksal zur Tragik führt. So ist der
»Faust« die Tragödie des Geistes in den Schranken des Naturerkennens.
So ist »Hamlet« die Tragödie des Charakters in den Grenzen der
Persönlichkeit.

Der Held glaubt an sich in irgend einer Form und fühlt sich
jeder Situation gewachsen, bis das Fatum eine Falle findet und das
Böse siegt. Dadurch verliert aber der Held an psychologischem Interesse,
und Siegfried stirbt durch einen Zufall. Diese Tragödie will den Beweis
der menschlichen Unzulänglichkeit und endet mit einem mehr oder
weniger deutlichen Hinweis auf göttliches Walten. Der Glaube schwindet
und wir verlangen eine Verlegung der Unzulänglichkeit in die Person.
Aus dem Helden wird unter Abstreifung des Ideals ein Typus.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 344, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0344.html)