Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 345

Der moderne Schicksalsroman (Hartwig, Th. J.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 345

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DER MODERNE SCHICKSALSROMAN. 345

So zeichnet Turgenjew in »Väter und Söhne« im Basarow den
tragischen Typus des freien Gedankens in den Schranken des Phili-
steriums. So stellt Dostojewsky im »Doppelgänger« Goljadkin als tragi-
schen Typus der hoffenden Lebenserwartung unter dem hemmenden
Einfluss des unthätigen Willens dar. Das psychologische Material wächst
Wir finden zahlreiche Anknüpfungspunkte und das Interesse steigt mit
der Theilnahme, die eine Wandlung der angeregten Phantasie bedeutet.
Die Beziehung des Typus zur Aussenwelt ist noch vollständig vor-
handen, die Motivation der Handlungen ist aber bedeutend einge-
schränkt, der Typus handelt wie unter dem Zwange eines Principes,
das eine gewisse Unfreiheit, Unzulänglichkeit des Wollens nach einer
bestimmten Richtung bedingt. Das entspricht noch immer einer heim-
lichen höheren Vorherbestimmung, an die wir glauben müssen.

Der Glaube fällt. Wir zweifeln.

Wir zweifeln, ob der Charakter des Helden ein Charakter ge-
nannt zu werden verdient, da er sich doch nie widerspricht.

Wir zweifeln, ob der Typus auf die Sittlichkeit geprüft werden
kann, da er sich und seiner Sache nicht untreu wird.

Wir wollen die Tragödie des Menschlichen, selbst wenn es ohne
jeden Zweifel charakterlos und unsittlich ist. Wir wollen jenes Menschen
Schicksal, der so wie wir durch das Leben geht, wie ein Müssiggänger
auf der Strasse. Er nimmt das, was ihm in den Wurf kommt, unbe-
dacht und undenkbar, die Brosamen des Glückes, die Lockspeise des
Unglückes. Er ist nicht einmal der Schauspieler seines Ideals. Ist er
ein Verbrecher, ein Sünder oder — ein werdender Charakter? Ein
unbedeutender, harmloser Bösewicht wie Tschitschikow in Gogol’s
»Tote Seelen«, ein eitler, niedriger Stutzer wie Georg in Mauppassant’s
»Bel ami«, oder gar ein lächerlicher, ruheseliger Patron wie der liebende
Gatte der Madame Bovary? Es ist uns gleich. Die Hauptperson muss
ein äusseres oder inneres Erlebniss liefern, das Anhaltspunkte für
unser eigenes Denken, Fühlen und Handeln besitzt. Wie immer wir
lesen, ob wir für die Aeusserungen unseres Ichs einer Bestätigung be-
dürfen oder ob wir die Controle eines fremden Schicksals übernehmen,
wir beanspruchen eine Gegenseitigkeit dieser Beziehungen. Nur muss
die Feinfuhligkeit des Lesers und des Dichters im Einklang stehen. Der
Dichter kann nach Jacobsen’s Forderung »das Publicum, so fein als
er immer mag« nehmen, der Leser wird willig folgen, ist doch eine
intensivere und tiefere Auffassung des Lebens für sein eigenes Leben
Gewinn.

Wir andererseits dürfen fordern, was Emerson den Dichtern vorweg
zuerkennt: »Der Dichter ist kein Schwätzer, der das sagt, was ihm
gerade einfällt, und der schliesslich auch unter vielem Werthlosen einmal
etwas Gutes redet, sondern ein Mensch von warmem Gefühl, der in
steter Uebereinstimmung mit seiner Zeit und seinem Lande lebt.«

In der alten Heldensage gibt Siegfried der Brunhilde einen
Backenstreich. — — Goethe wusste wohl, dass seine Zeitgenossen es nicht
störend empfinden werden, wenn Faust, der müde Denker, fern aller

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 345, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0345.html)