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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 347

Text

AUS LEIPZIG.
Von Ludwig Wolff (Wien).

Wenn man aus dem aufdringlichen und selbstbewussten Lärm
Berlins nach Leipzig kommt, wird man in eine andere Welt versetzt.
Alles ist ruhiger, behaglicher, gedämpfter. Die Leute haben mehr Zeit,
sie gehen gemächlicher, sie reden langsamer, sie essen und trinken mit
mehr Musse. Sie sind viel einfacher als die Berliner, weniger complicirt,
ein bischen spiessbürgerlich und altfränkisch. Aber man kann sie lieb-
gewinnen.

Der erste Eindruck der Stadt ist sehr freundlich, anheimelnd, ein
Gemisch unvergessenen Mittelalters und stolzer Neuzeit. Durch die
schmalen Gassen, die den jungen Goethe gesehen haben, sausen die
elektrischen Wagen, und die verschnörkelten Giebel der alten Patricier-
häuser werden vom kalten Bogenlicht bestrahlt. Ein Märchen, aus-
gestattet mit allen technischen Errungenschaften, über das man alle
Bücher vergisst.

Im Verlegerviertel trägt fast jedes Haus eine oder mehrere Firmen
von mehr oder minder bekannten Namen. Wenn man durch dieses
Quartier schlendert, kann man mit einiger Phantasie ein Stückchen
Literaturgeschichte durchwandern. Für junge Dichter, die nicht glauben
wollen, dass es schon vor ihnen Dichter gegeben hat, wäre es ein
lehrreicher Spaziergang. Aber in Leipzig gibt es keine Dichter, nur
Verleger. Die Verleger! Die jungen Dichter träumen von ihnen in un-
ruhigen Nächten. Der Verleger, das ist ein Halbgott, der Fortunas
Wünschelruthe besitzt, mit der er die bezaubernden Träume unserer
Jugend lebendig zu machen vermag.

Man thut ihnen bitter Unrecht, den Verlegern. Sie sind sehr
brave und fleissige Kaufleute, die mit rührender Einhelligkeit über die
schlechten Zeiten klagen. Der eine ist findiger als der andere, der eine
hat mehr Glück, der andere weniger, dieser hat gute, jener schlimme
Erfahrungen gemacht. Aber diese kleinen Unterschiedlichkeiten vermögen
nicht den allgemeinen Typus zu verwischen.

Im Verkehre sind sie sehr biedere und freundliche deutsche
Männer. Das rührt wohl daher, weil sie mit Schriftstellern fast gar
keinen persönlichen Umgang haben. Es verirrt sich so selten einer nach
Klein-Paris. Und schriftlich sagt man sich auserlesene Liebenswürdig-
keiten.

Im Anfang erschrecken sie sehr heftig, wenn man die Unvor-
sichtigkeit begeht, sich nicht als Journalist vorzustellen. Sie beruhigen
sich erst, wenn sie sehen, dass der seltsame Besuch keine verdächtigen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 347, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0347.html)