Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 348
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Rollen und Pakete mit sich führt. Aber dann sind sie wirklich aus-
nahmslos von einer hinreissenden Liebenswürdigkeit. Sie werden rasch
vertraut und nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Nach einer halben
Stunde schütten sie ihr Herz aus.
Der Erste, zu dem ich kam, interessirte sich sehr für öster-
reichische Verhältnisse. Er war ein sehr schlauer Herr, und ich wurde
bald, statt zu interviewen, interviewt. Den ganzen Groll über unsere
heimatliche Verlegermisière breitete ich vor dem wackeren Mann aus.
Ich erzählte ihm von den verschwiegenen Schmerzen so manches
Literaten, dem es wehe thut, im Deutschen Reich mit seiner öster-
reichischen Waare hausiren zu müssen, der bitter die Schmach empfindet,
in der Heimat kein Heim zu besitzen.
Der Verleger war ein tüchtiger Kaufmann. Er vergoss keine Thränen
über meine herzbewegenden Klagen, sondern meinte sehr nüchtern und
überzeugt:
»Ihr habt eben in Oesterreich keinen Geschäftsgeist. Wissen sie,
mein lieber Herr, wie viel Percent unseres gesammten Bücherexportes
nach Oesterreich gehen: Dreiundvierzig Percent. Was sagen Sie dazu?
Ein findiger Mensch in Oesterreich müsste sich vor den Kopf schlagen:
‚Sapperlot, unsere Leute interessiren sich ja für Literatur. Wenn es mir
gelänge, ein paar bessere einheimische Autoren zu bekommen, so liesse
sich damit ein Geschäft machen.‘ Aber ihr habt eben keinen Geschäfts-
geist. Einige unternehmende österreichische Verleger könnten uns eine
nicht unbedeutende Concurrenz schaffen. Und auch die österreichischen
Schriftsteller würde man dann ganz anders behandeln. Heute ist man
ihnen gegenüber ein wenig stolz, denn man weiss, dass sie auf Deutsch-
land angewiesen sind. Wenn sie in Oesterreich selbst einen Markt für
ihre Bücher hätten, dann würde man ihnen mit viel grösserer Zuvor-
kommenheit begegnen.«
Dieser erste Verleger war ein sehr anschlägiger Kopf. Wenn ich
ihn recht verstehe, so gedenkt er eines Tages in Wien aufzutauchen
und einen österreichischen Verlag zu begründen. In Wien würde natür-
lich kein Mensch die Bücher seines Verlages kaufen — ich bitte Sie,
ein Wiener Verlag — aber er dürfte sich wahrscheinlich auf den Export
nach Deutschland verlegen.
Der zweite Verleger, den ich besuchte, hatte nur ein Thema:
Die Ueberproduction. Er sagte wehmüthig mit der leisen Ueberlegen-
heit des Weisen, den nichts mehr in Erstaunen zu setzen vermag:
»Rathen Sie einmal, wie gross im Durchschnitt mein täglicher
Einlauf ist? Aber nein, Sie würden es nie errathen. Also ich bekomme
täglich mindestens fünf ausgewachsene Romane, zumeist von Damen,
gegen fünfzehn Novellensammlungen und achtzehn bis zwanzig Dramen
von sehr jungen oder sehr alten Leuten. Na, und die lyrischen
Sendungen, die sind gar nicht zu zählen. Ich übertreibe nicht.«
»Und was geschieht mit den Sachen?«
»Sie bleiben ungefähr einen Monat lang liegen, dann werden sie
retournirt. Aber manchmal habe ich Gewissensbisse, bei Gott, Ge-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 348, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0348.html)