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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 351

Text

IBSEN.
Von F. Schik (Wien).

Der modernste Dichter ein alter Mann. Er näherte sich schon
der Schwelle des Greisenalters, als seine Stücke erst die weniger Bühnen
überschritten. Nicht aus Barmherzigkeit mit einem grauhaarigen Schrift-
steller erweist man ihm jetzt den Gefallen, ihn überall aufzuführen —
die Welt bedarf seiner Werke.

Zur Zeit, als seine Altersgenossen sich noch ganz und voll am
Trubel von Theaterpuppen ergötzten, mitten in einer literarischen
Seuche, wusste er gesundes Blut in seine »Buchdramen« einzuleiten.
Jahrzehntelang war das Leben in ungelesenen Büchern festgelegt; das
Publicum fühlte sich nur behaglich, je mehr die Vorgänge auf der
Bühne der Wahrheit ins Gesicht schlugen. Selbst die unvergänglichen
Meisterwerke, die vor Ibsen geschaffen worden, waren nahe daran,
ausser Cours zu kommen. Erst wieder der Gesichtswinkel, unter dem
er seine Betrachtungen anstellt, lässt jene nun in völlig neuem Lichte
erscheinen.

Lange währte es, bis die Unnatur sich auszuleben begann. Schrift-
stellergenerationen sind wie mit Scheuklappen dahingegangen, ohne
Ahnung davon, welch drohende Dichtergestalt bereits durch zahl-
reiche Werke den ruhmlosen Untergang der Scheinliteratur besiegelt
hatte. Wäre die Bedeutung jedes Ibsen’schen Dramas stets unmittelbar
nach Entstehung und nicht erst Jahrzehnte darnach erkannt worden,
die Gesammtentwicklung der dramatischen Dichtung hätte nicht jenen
beklagenswerthen Stillstand erfahren; auch die Schauspielkunst wäre
nicht in dem Masse verlottert, wie dies heute der Fall ist. Ueberlange
mussten die Darsteller aus schwindsüchtigen Theaterstücken ihre Kräfte
ziehen und degenerirten, während rettende Nährstoffe, durch Ibsen
aufgespeichert, unberührt dalagen. So ist es dahin gekommen, dass man
in Theaterkreisen der Rolle eines modern gezeichneten Bedienten oft
rathloser gegenübersteht, als der eines Wildenbruch’schen Helden.

Ganz im Sinne Kant’s ist Ibsen das Genie, welches der Kunst
neue Regeln gegeben hat. Man meinte immer, das Wort »Drama«
bedeute nur »äussere Handlung«. Seit Ibsen beginnt man einzusehen,
dass die innere Handlung viel intensiver als jene das Theaterpublicum
zu beschäftigen vermag. Bisher war wohl bestenfalls die Handlung,
selten waren die auftretenden Personen lebendig. Ibsen versetzt Alles
in die letzte, äusserste Handlungsconsequenz, in der den Menschen
kein anderer Ausweg mehr offen steht als die rasende Flucht in ihr
eigenes Innere.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 351, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0351.html)