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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 352

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352 SCHIK.

Seine Stücke lassen beabsichtigter Weise die Unbefriedigtheit zurück,
welche uns die heutigen Zustände bereiten. Die Continuität der Genera-
tionen scheint zerrissen. Das Gros der Männer hat abgewirthschaftet; sie
verderben die Race. Nur im Weibe liegen noch die Qualitätskeime einer
entwicklungsfähigen Zukunft; es muss daher auf die Suche nach dem
»Wunderbaren« ausgehen. So enden die charakteristischen Ibsen’schen
Stücke ungeschlechtlich; die Wege von Mann und Weib gehen am
Schlusse auseinander und führen zu keiner bürgerlichen Vereinigung
mehr. Auf den Verfall der Gemeinschaft, aus dem die »Umwandlung«
sich entwickeln soll, spitzt sich Alles zu.

Die Communication der fortschreitenden Erkenntnisse der Wissen-
schaft mit der Kunst ist durch Ibsen energisch hergestellt worden. Nach
dem Gesetze der Vererbung spielen in einem Ibsen-Stücke stets mehrere
Generationen mit. So wenig Personen auch der Theaterzettel verzeichnet,
so viele Vorfahren greifen ein. Das ganze Menschenmaterial eines ver-
gangenen Geschlechtes bildet das nebelhafte Geleite seines Gegenwarts-
vertreters, der nun scheinbar allein durch die schmale dramatische Thür
eines Ibsen’schen Dramas tritt. Reformatorisch hat Ibsen den Motiven-
umfang für moderne dramatische Gestalten und die Ursachenproportionen
für die Beziehungen derselben fixirt. Gemäss der durchschnittlichen
Oekonomie der Natur hat er weder mehrere wirkliche Wesen zu einer
Bühnengestalt summirt, noch die Eigenschaften eines Individuums ins
Ueberlebensgrosse potenzirt. Bei den Classikern noch könnte man manche
tragische Figur auf gut zehn lebendige Menschen auftheilen, weil dort
die Ausstattung mit Paralleleigenschaften eine überreiche ist. Ibsen hat
die Veränderungen wahrgenommen, die an den Contouren des allge-
meinen Menschheitsbildes sich vollzogen haben. Je mehr das Wesen
der Seelen enthüllt wird, desto verhüllter erscheint der Charakter der
Gesammtmenschheit. Diese sendet nun wieder geheimnisvolle Nebel-
gestalten aus, die der Dichter durch seine symbolischen Figuren markirt.

Ibsen ist über seine eigene Persönlichkeit nicht sehr mittheilsam.
Er verweist stets von sich auf seine Werke. Und so mögen denn auch
zur Feier seines siebzigsten Geburtstages weniger grosse Worte Anderer
über ihn, als vielmehr die grossen Werke des Gefeierten selbst auf der
Bühne erscheinen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 352, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0352.html)