Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 350
Text
Mein Begleiter sagt ohne Pathos:
»Das sind die Bücher, die nicht gegangen sind. Ich lasse sie
noch eine Weile hier ablagern, dann werden sie verkauft, zwei bis
fünf Pfennige das Stück.«
Ein wenig traurig verlasse ich den dumpfen Raum. Mein liebens-
würdiger Führer fragt gastfreundlich:
»Haben Sie vielleicht für mich ein Buch?«
Ich drücke ihm ergriffen die Hand und sage nicht einmal
ironisch:
»Nein, das thue ich Ihnen nicht an. Ich will nicht, dass Sie
meiner einst in Bitterkeit gedenken, wenn Sie einen anderen Gast
durch die ‚Todtenkammer‘ geleiten.«
Der Verleger begreift die Welt nicht mehr.
BACIO MORTO.
Der Frühling war so traurig. Bange bebte
Die frühe Blüthe in dem blassen Beet.
Der Wind war wild — und eh’ sie ihn erlebte,
war sie verweht.
Ein Abend war: aus meinem Herzen schwebte
Ein Kuss für dich. Da schautest du nicht her,
Und eh’ er noch auf meinen Lippen lebte, —
war er nicht mehr.
Ada Negri.
Deutsch von Rainer Maria Rilke.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 350, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0350.html)