Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 455

Verse zum Gedächtnis eines Schauspielers (Hofmannsthal, Hugo v.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 455

Text

VERSE ZUM GEDÄCHTNISS EINES SCHAUSPIELERS. 455

und sah auf uns, die wir in Häusern wohnen,
mit jenem undurchdringlich fremdem Blick
des Salamanders, der im Feuer wohnt.

Er war ein wilder König. Um die Hüften
trug er wie bunte Muscheln aufgereiht
die Wahrheit und die Lüge von uns Allen.
In seinen Augen flogen unsre Träume
vorüber, wie von Schaaren wilder Vögel
das Spiegelbild in einem tiefen Wasser.

Hier trat er her, auf eben diesen Fleck,
wo ich jetzt steh’, und wie im Tritonshorn
der Lärm des Meeres eingefangen ist,
so war in ihm die Stimme alles Lebens:
Er wurde gross. Er war der ganze Wald,
er war das Land, durch das die Strassen laufen.
Mit Augen wie die Kinder sassen wir
und sah’n an ihm hinauf wie an den Hängen
von einem grossen Berg: in seinem Mund
war eine Bucht, drin brandete das Meer.

Denn in ihm war etwas, das viele Thüren
aufschloss und viele Räume überflog:
Gewalt des Lebens, diese war in ihm.
Und über ihn bekam der Tod Gewalt!
Blies aus die Augen, deren inn’rer Kern
bedeckt war mit geheimnissvollen Zeichen,
erwürgte in der Kehle tausend Stimmen
und tödtete den Leib, der Glied für Glied
beladen war mit ungebornem Leben.

Hier stand er. Wann kommt einer, der ihm gleicht?
Ein Geist, der uns das Labyrinth der Brust
bevölkert mit verständlichen Gestalten,
Erschliesst aufs Neu’ zu schauerlicher Lust?
Die er uns gab, wir konnten sie nicht halten,
und starren nun bei seines Namens Klang
hinab den Abgrund, der sie uns verschlang.

Wien. Hugo von Hofmannsthal.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 455, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0455.html)