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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 476

Text

DAS ORGANISIRTE THEATERPUBLICUM.

Schriftsteller, Theaterdirectoren, Schauspieler haben ihre
Verbände, das Publicum nicht.

Die Aeusserungen des Theaterpublicums, die auf Applaus
und Zischen beschränkt sind, werden noch obendrein durch
das Claqueunwesen verunreinigt.

Der Zuschauer ist folglich darauf angewiesen, nach Be-
such einer Vorstellung sich einigen Bekannten gegenüber,
mit denen er zufällig zusammentrifft, über eine Aufführung
auszusprechen.

Mehr als das urzeitliche Verbreitungsmittel der münd-
lichen Ueberlieferung steht dem Einzelnen nicht zu Ge-
bote.

Die geistige Arbeit, die in den Urtheilen des Theater-
publicums steckt, geht für die Allgemeinheit verloren.

Die berufsmässige Kritik sieht sich stets ein und den-
selben Premierenbesuchern gegenüber — jede Novität spielt
vor einem abgedroschenen Publicum. Dadurch ist dem
Kritiker die eigene Rückläuterung erschwert, den Kreis-
lauf seiner Kunstideen im Grossen zu beobachten.

Es wird also ausserhalb des Theaters eine Gelegen-
heit zu suchen sein, wo das Gesammt-Theaterpublicum
seine eigenen Urtheile hören, wo es seine Forderungen
entwickeln kann und in die Macht gelangt, sie auch durch-
zusetzen.

Den fortwährenden Irrthümern, die aus der sogenannten
Unberechenbarkeit des Theaterpublicums entspringen, würde
allmählich gesteuert.

Theaterdirectoren, Schauspieler und auch die Censur
erhielten eine sichere Richtschnur, von der nicht leicht ab-
gegangen werden könnte.

Die Theaterwillkür in allen Zweigen würde gebrochen.

Die Kritik, die aus dem Publicum heraus für Alle ver-
nehmlich erfolgt, verleiht theils der fachmännischen Journal-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 476, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0476.html)