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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 505

Text

DIE REGISSEURIN.
Von Adele Sandrock (Wien).

Das berufliche Zusammenwirken von Männern und Frauen
hat nirgends von selbst zu einer solchen Gleichberechtigung
geführt, wie beim Theater. In der Schauspielkunst hat der Mann
keinen Vorrang. Umso unverständlicher ist es, dass bei der Bühne
den Frauen diejenigen Geschäfte bisher entzogen blieben, welche
die Frauen im Leben vorwiegend besorgen.

In jedem Hausstand obliegt ihnen fast ausschliesslich das
Arrangement der Einrichtung, die Anordnungen bei Gesellschaften,
die Herrichtung der Tafel, mit einem Worte: das Wohnlichmachen
der Hausräume. Wer besorgt aber dies Alles auf der Bühne?
— Der Regisseur! Was der Mann im Leben unter seiner Würde
erachtet — beim Theater verleiht es ihm eine solche.

Der Regisseur hat ferner die Einstudirung der Stücke bei den
Proben zu leiten, bei Auffassung der männlichen und weib-
lichen
Rollen mit seinen Ansichten einzugreifen. Wie komisch
ist sich nun im Leben schon so mancher Mann bei Beurtheilung
eines Weibercharakters vorgekommen, wie verblüfft war er da-
gegen zuweilen über die durchdringende Schärfe, mit der eine Frau
das Wesen einer andern klarzulegen vermochte.

Es ist also Unsinn, heute noch beim Theater, welches ja
die natürlichen Eigenschaften des Menschen unverfälscht wieder-
spiegeln soll, in irgend einer Beziehung dem Mann das Ressort
der Frau, das im Leben das ihrige ist, zu übertragen.

Auch ist es ja eine bekannte Thatsache, dass die Schau-
spielerinnen ihre Rollen weit besser memoriren und genauer
innehaben als die Schauspieler, weshalb in dieser Richtung die
Regisseurin sogar dem Regisseur bei weitem vorzuziehen ist.

Ich gebe zu, dass es Bühnenwerke gibt, die im Ganzen
ein ausgesprochen männliches Gepräge haben, z. B. Julius Caesar,
Die Räuber, Wilhelm Tell, Nathan, aber ebensoviele andere, die
nur eine weibliche Regieführung vertragen (Des Meeres und der
Liebe Wellen, Sappho, Hedda Gabler, Einsame Menschen). Am

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 505, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0505.html)