Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 504
Text
widersetzte sich nicht. Ihr Gesicht erschien ruhig und ihre Augen waren
trocken. Sie ging in die Kinderstube und schaute überall nach, wo
Ljoljetschka sich früher versteckte. Sie ging um das ganze Zimmer
herum, bückte sich, um unter den Tisch oder unter das Bettchen zu
sehen und sprach dabei mit fröhlicher Stimme:
»Wo ist mein Kindchen? Wo ist meine Ljoljetschka?«
Wenn sie um das Zimmer herumgegangen war, begann sie von
Neuem zu suchen. Fedossja sass unbeweglich, mit traurigem Gesicht in
einer Ecke, sah die Gnädige erschrocken an und begann dann plötzlich
zu schluchzen und laut zu jammern:
»Versteckt hat sie sich, immer versteckt, Ljoljetschka, die Engels-
seele!«
Serafima Alexandrowna fuhr zusammen, blieb stehen, blickte
Fedossja verwundert an, begann zu weinen und ging still aus der Kinder-
stube hinaus.
Sergei Modjestowitsch beschleunigte das Begräbniss. Ihn beun-
ruhigte das Gebahren der Frau. Er begriff, dass Serafima Alexandrowna
vom plötzlichen Kummer ausserordentlich erschüttert war und, da er
für ihren Verstand fürchtete, glaubte er, man müsse Ljoljetschka
schnell begraben, um die Mutter zu zerstreuen und zu trösten
Des Morgens kleidete sich Serafima Alexandrowna besonders
sorgfältig an — für Ljoljetschka. Als sie in den Salon kam, waren
zwischen ihr und Ljoljetschka viele Leute, der Geistliche und der
Diakon gingen hin und her, ein blauer Rauch schwamm durch die
Luft und es roch nach Weihrauch. Mit einer dumpfen Schwere im
Kopf ging Serafima Alexandrowna an Ljoljetschka heran. Sie lag
still und blass da und schien zu lächeln. Die Mutter lehnte ihre
Wange an den Rand von Ljoljetschkas Sarg und flüsterte: »Kuku,
Kindchen!« Das Kindchen antwortete nicht.
Um Serafima Alexandrowna ging etwas vor, ein Trubel, eine
Bewegung, fremde und gleichgiltige Gesichter neigten sich über sie,
Jemand stützte sie — und man trug Ljoljetschka irgendwo hin.
Serafima Alexandrowna richtete sich empor, schrie bestürzt auf,
lächelte und sagte laut:
»Ljoljetschka!«
Man trug Ljoljetschka fort — die Mutter stürzte mit einem
verzweifelten Wehruf dem Sarge nach — man hielt sie fest. Sie
sprang hinter die Thür, durch die man Ljoljetschka hinaustrug, setzte
sich dort auf den Fussboden, schaute durch die Spalte und rief:
»Ljoljetschka, kuku!«
Dann steckte sie den Kopf hinter der Thür heraus und lachte.
Man trug Ljoljetschka eilig von der Mutter fort — der rasch
forteilende Trauerzug glich einer Flucht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 504, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0504.html)