Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 503

Ljoljetschka (Ssologub, Fjodor)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 503

Text

LJOLJETSCHKA. 503

ihre Schmerzen und ihre Schwäche mit zärtlicher Sanftmuth und
lächelte der Mama zu, damit die Mama nicht glaubte, dass es sie
sehr schmerzte.

Quälend wie ein Alpdruck vergingen drei Tage. Ljoljetschka war
ganz kraftlos. Aber sie begriff nicht, dass sie starb.

Sie blickte die Mutter mit trüben Augen an und flüsterte mit
ihrem kaum hörbaren, heiseren Stimmchen: »Kuku, Mamachen! Mache
kuku, Mamachen!«

Serafima Alexandrowna versteckte das Gesicht hinter die Vor-
hänge von Ljoljetschkas Bettchen. Welch eine Qual!

»Mamachen!« rief Ljoljetschka kaum hörbar.

Die Mama beugte sich zu Ljoljetschka herab — und Ljoljetschka
sah zum letztenmal mit ihren brechenden Augen Mamachens blasses
und verzweifeltes Gesicht.

»Mamachen ist weiss!« flüsterte sie.

Mamachens blasses Gesicht erlosch und es wurde dunkel vor
Ljoljetschka. Sie erfasste mit den Händchen den Rand der Bettdecke
und flüsterte:

»Kuku.«

Aus ihrer Kehle drang ein Röcheln, Ljoljetschka öffnete und schloss
wieder die auf einmal erblassten Lippen und starb

In stumpfer Verzweiflung verliess Serafima Alexandrowna Ljo-
ljetschka und ging aus dem Zimmer. Sie begegnete ihrem Mann.

»Ljoljetschka ist todt,« sagte sie mit klangloser Stimme.

Sergei Modjestowitsch blickte ihr blasses Gesicht ängstlich an.
Ihn überraschte die sonderbare Stumpfheit in den Zügen dieses früher
belebten und schönen Gesichtes

VII.

Man kleidete Ljoljetschka an, legte sie in einen kleinen Sarg und
trug sie in den Salon. Serafima Alexandrowna stand am Sarg und blickte
das todte Töchterchen stumpf an. Sergei Modjestowitsch kam auf seine
Frau zu, tröstete sie mit leeren und kalten Worten und bemühte sich
sie vom Sarg fortzuführen. Sie lächelte.

»Geh fort! Ljoljetschka spielt, sie wird gleich aufstehn.«

»Reg’ Dich nicht auf, meine Liebe,« sprach Sergei Modjestowitsch
im Flüsterton. »Man muss sich in das Schicksal fügen.«

»Sie wird aufstehen,« wiederholte Serafima Alexandrowna eigen-
sinnig und schaute die Todte mit starren Augen an.

Sergei Modjestowitsch blickte ängstlich um sich: er fürchtete das
Unschickliche und Lächerliche.

»Reg’ Dich nicht auf!« sprach er wieder. »Das wäre ein Wunder,
und im neunzehnten Jahrhundert geschehen keine Wunder.«

Nachdem er diese banalen und unpassenden Worte gesagt hatte,
fühlte Sergei Modjestowitsch dunkel, wie wenig sie dem entsprachen,
was vorging. Er wurde verlegen und ärgerlich. Er fasste die Frau am
Arm und führte sie vorsichtig vom Sarge fort. Serafima Alexandrowna

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 503, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0503.html)