Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 502

Ljoljetschka (Ssologub, Fjodor)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 502

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502 SSOLOGUB. V.

Ljoljetschka ging zu Bett. Ihre Augen fielen vor Müdigkeit zu,
als sie sich in das von Netzen umrandete Bettchen legte. Die Mama
deckte sie mit der blauen Decke zu. Ljoljetschka befreite ihre weissen
und zarten Händchen aus der Decke und streckte sie aus, um Mamachen
zu umarmen. Die Mama neigte sich zu ihr herab. Ljoljetschka küsste
die Mama mit einem zärtlichen Ausdruck im müden Gesichtchen und
senkte den Kopf auf die Kissen. Ihre Hände versteckten sich unter
die Decke, und das Mädchen flüsterte: »Die Händchen — kuku.«

Mamas Herz stand stille — Ljoljetschka lag so klein, so schwach
und still da. Ljoljetschka lächelte leise, schloss die Augen und sagte
still: »Die Augen, kuku.«

Und dann noch leiser: »Ljoljetschka, kuku.«

Mit diesen Worten schlief sie ein, die Wange an das Kissen
geschmiegt, in die Decke gehüllt, klein und schwach. Die Mutter
blickte sie mit zärtlichen, traurigen Augen an

Und lange stand Serafima Alexandrowna an Ljoljetschkas
Bettchen und blickte ihre Ljoljetschka ängstlich an. »Ich bin ja die
Mutter: ist’s möglich, dass ich sie nicht in Schutz nehmen kann?« —
dachte sie. und stellte sich allerlei Gefahren vor, die Ljoljetschka
drohen konnten.

Sie betete lange in dieser Nacht, aber das Gebet erleichterte ihre
Bangigkeit nicht

VI.

Ein paar Tage vergingen. Ljoljetschka hatte sich erkältet.
Serafima Alexandrowna musste für ein paar Stunden fortgehen, die
Wärterin passte nicht genügend auf und Ljoljetschka spielte zu lange
am offenen Fenster. Des Nachts bekam die Kleine Fieber. Als Serafima
Alexandrowna, von Fedossja aufgeweckt, zu Ljoljetschka kam und sie in
der Fieberhitze unruhig und leidend fand, dachte sie zuerst an das
unheilverkündende Merkmal, und Verzweiflung, die im ersten Moment
hoffnungslos war, bemächtigte sich ihrer.

Man holte den Arzt, that Alles was in solchen Fällen zu thun
ist, doch das Unvermeidliche vollzog sich. Serafima Alexandrowna gab
sich Mühe, sich mit der Hoffnung zu trösten, Ljoljetschka würde
genesen, würde wieder lächeln und spielen, doch das erschien ihr als
ein unerreichbares Glück. Und Ljoljetschka wurde von Stunde zu
Stunde schwächer.

Der Arzt und der Mann heuchelten Ruhe, um Serafima Ale-
xandrowna nicht zu erschrecken, aber ihre unaufrichtigen Gesichter
machten sie traurig. Eine tödtliche Bangigkeit kam über sie von
Fedossjas Schluchzen und Jammern.

»Versteckt hat sie sich, meine Ljoljetschka, immer versteckt!«
Aber Serafima Alexandrownas Gedanken waren unklar, und
sie begriff schlecht, was vorging.

Ljoljetschka brannte wie im Feuer, verlor jeden Augenblick das
Bewusstsein und phantasirte. Aber wenn sie zu sich kam, ertrug sie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 502, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0502.html)