Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 501
Text
Abend mit besonderem Eifer, sich mit etwas Anderem zu beschäftigen,
aber sie kehrte unwillkürlich zu dem Gedanken zurück, dass Ljoljetschka
sich zu verstecken liebte
Als Ljoljetschka noch ganz klein war und erst seit Kurzem ge-
lernt hatte, die Mama und die Wärterin zu erkennen, kam es vor,
dass sie plötzlich die Mama mit schelmischer Miene anblickte, auflachte
und sich hinter die Schulter der Kindsfrau versteckte, die sie auf dem
Arm hielt. Dann lugt sie verschmitzt hervor. In der letzten Zeit hatte
Fedossja Ljoljetschka wieder daran gewöhnt, sich während der kurzen
Zeiträume, da die Mama in der Kinderstube abwesend war, zu ver-
stecken; als die Mama dann sah, wie reizend Ljoljetschka war, wenn
sie sich versteckte, fing sie selbst an, Verstecken zu spielen
Am nächsten Morgen vergass Serafima Alexandrowna, von den
freudigen Sorgen um Ljoljetschka erfüllt, Fedossjas gestrige Reden.
Aber als sie aus der Kinderstube ging, um das Mittagessen zu be-
stellen, und dann als sie zurückkam, Ljoljetschka unter dem Tisch
versteckt war und von dort aus: »Kuku!« rief, wurde es Serafima
Alexandrowna plötzlich bange. Obgleich sie sich diese unbegründete
abergläubische Angst sofort selbst vorwarf, konnte sie Ljoljetschka
doch nicht mehr mit dem Versteckenspielen unterhalten und bemühte
sich, Ljoljetschkas Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken.
Ljoljetschka ist ein freundliches, gehorsames Kind. Sie leistet
Mamas Wunsch gerne Folge. Aber da sie schon gewohnt ist, sich vor
Mama zu verstecken und ihr »Kuku« zu rufen, kommt sie auch heute
häufig darauf zurück.
Serafima Alexandrowna strengte sich an, Ljoljetschka zu be-
schäftigen. Das ist nicht so leicht! Besonders wenn bange und drohende
Gedanken stören.
Warum denkt Ljoljetschka immer an ihr »Kuku!«? Wieso
wird sie des Einerleis nicht überdrüssig, die Augen zu schliessen und
das Gesicht zu verstecken? Vielleicht, dachte Serafima Alexandrowna,
hat Ljoljetschka keine so starke Neigung zur Welt wie andere Kinder,
welche die sie umgebenden Dinge unverwandt anschauen. Aber wenn
dem so ist, ist das nicht ein Zeichen organischer Schwäche? Ist das
nicht der Keim der unbewussten Unlust zum Leben? Vorahnungen
quälten Serafima Alexandrowna. Sie schämte sich vor Fedossja und
vor sich selbst, das Versteckenspiel aufzugeben. Aber das Spiel wurde
ihr zur Qual, umsomehr da sie trotzdem Lust hatte es zu spielen und
sich immer mehr hingezogen fühlte, sich vor Ljoljetschka zu verstecken
oder die versteckte Ljoljetschka zu suchen. Serafima Alexandrowna
war manchmal sogar selbst die Anstifterin dieses Spieles — wobei
sie darunter litt wie unter etwas Bösem, von dem man weiss, dass man
es nicht thun darf und es doch thut. Es war ein schwerer Tag für
Serafima Alexandrowna
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 501, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0501.html)