Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 500

Ljoljetschka (Ssologub, Fjodor)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 500

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500 SSOLOGUB.

»Was willst Du, Fedossja? Ist was mit Ljoljetschka geschehen?«

Sie erhob sich rasch vom Sessel.

»Aber nein, gnä’ Frau,« erwiderte Fedossja und wehrte mit den
Händen ab, um die Gnädige zu beruhigen und sie zum Sitzen zu
bringen, »Ljoljetschka schläft, Gott sei mit ihr. Aber ich will Ihnen
sagen, wissen Sie — ich werde Ihnen sagen, Ljoljetschka versteckt
sich immer bei uns — das ist nicht gut «

Fedossja sah die Gnädige mit stieren, vor Schrecken gerundeten
Augen an.

»Warum ist das nicht gut?« fragte Serafima Alexandrowna und
auch sie fühlte unwillkürlich eine unbestimmte Unruhe.

»Es ist schon einmal so, schlecht ist’s, nicht gut,« sagte Fedossja
und ihr Gesicht drückte eine unerschütterliche Ueberzeugtheit aus.

»Sprich, bitte, vernünftig,« befahl Serafima Alexandrowna kurz,
»ich verstehe nichts.«

»Ja schauen Sie, Gnädige, es gibt so ein Merkmal,« erklärte
Fedossja und wurde plötzlich verlegen.

»Unsinn,« sagte Serafima Alexandrowna.

Sie hatte keine Lust, länger zu hören, was das für ein Merkmal
sei, was es prophezeie — ihr wurde, man kann nicht sagen ängstlich,
aber unheimlich zu Muth, sie fühlte sich beleidigt, dass irgend eine
offenbar sinnlose Erfindung die lieben Träume verscheucht und bange
macht.

»Ja gewiss, die Herrschaften glauben nicht an Merkmale, aber
dies Merkmal ist schlecht,« sprach Fedossja mit dumpfer Stimme, »das
Fräulein versteckt sich und versteckt sich «

Plötzlich weinte sie auf und schluchzte laut.

»Sie versteckt sich und versteckt sich und dann wird sich ihre
Engelsseele ins nasse Grab verstecken,« sagte sie, während sie sich mit
der Schürze die Thränen wischte und sich schneuzte.

»Wer hat Dir das Alles eingeredet?« fragte Serafima Alexandrowna
mit strenger und sinkender Stimme.

»Die Agafja,« antwortete Fedossja, »sie wird’s schon wissen.«

»Die wird’s wissen,« sagte Serafima Alexandrowna ärgerlich, die
sich offenbar durch irgend etwas gegen diese plötzliche Unruhe schützen
wollte. »Welch ein Unsinn! Ich bitte mir künftig keine solchen Dumm-
heiten zu sagen. Geh «

Fedossja ging mit beleidigtem und traurigem Gesicht.

»Welch ein Unsinn! Kann denn Ljoljetschka sterben?« dachte
Seraflma Alexandrowna, indem sie das Gefühl von Kälte und Schrecken,
welches sie beim Gedanken an die Möglichkeit von Ljoljetschkas Tod
erfasst hatte, durch vernünftige Argumente zu bekämpfen suchte.

Serafima Alexandrowna dachte daran, dass diese Frauen un-
wissend seien und deshalb an die Merkmale glauben. Was sie anbetraf,
begriff sie deutlich, dass zwischen einem Kinderspiel, für welches ein
jedes Kind eine Vorliebe fassen kann und der Dauer seines Lebens
keinerlei Zusammenhang bestehen könnte. Sie bemühte sich an dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 500, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0500.html)