Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 499

Ljoljetschka (Ssologub, Fjodor)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 499

Text

LJOLJETSCHKA. 499

»Sie ist noch so klein «

»Das ist übrigens nur so meine bescheidene Ansicht. Ich bestehe
nicht darauf — dort ist Euer Königreich.«

»Ich werde es mir überlegen,« antwortete die Frau und lächelte
kalt und höflich, wie er. Und sie sprachen von was Anderem.

II.

Des Abends erzählte die Wärterin Fedossja in der Küche dem
schweigsamen Dienstmädchen Darja und der alten Köchin Agafja, die
zu raisonniren liebte, wie überaus gern das kleine Fräulein mit der
Gnädigen Verstecken spielt: sie versteckt das Gesichtchen und ruft
»Kuku!«

»Und die Gnädige ist selbst wie so ’n kleines Kind,« sprach
Fedossja und grinste.

Agafja hörte zu, schüttelte missbilligend den Kopf und ihr Gesicht
wurde streng und vorwurfsvoll.

»Was schadet’s der Gnädigen: natürlich, ihr geht nichts ab,«
sagte sie, »aber dass das Fräulein sich immer versteckt — das ist
nicht gut.«

»Warum denn?« fragte Fedossja neugierig.

Ihr gutmüthiges und rothwangiges Gesicht sah vor Neugier dem
Gesicht einer plump bemalten Holzpuppe ähnlich.

»Ja, es ist nicht gut,« wiederholte Agafja voll Ueberzeugung,
»durchaus nicht!«

»Nun?« fragte Fedossja wieder und verstärkte den komischen
Ausdruck der Neugier in ihrem Gesicht.

»Sie versteckt sich und versteckt sich und wird sich ganz ver-
stecken,« sagte Agafja mit dumpfer Stimme, während sie ängstlich
nach der Thür hinschielte.

»Aber was Du nicht sagst!« rief Fedossja erschrocken aus.

»Es ist schon richtig, gib auf mein Wort acht,« sagte Agafja
mit Bestimmtheit, »das ist schon das sicherste Merkmal.«

Aber die Alte hatte dieses Merkmal offenbar selbst erfunden —
hatte plötzlich Glauben daran gefasst und war jetzt sehr stolz darauf.

III.

Ljoljetschka schlief und Serafima Alexandrowna sass bei sich im
Zimmer und dachte freudig und zärtlich an Ljoljetschka. Ljoljetschka
war in ihren Träumen ein liebes Kind, dann ein liebes junges Mädchen,
dann wieder ein reizendes junges Mädchen und blieb immer ohne Ende
Mamas Ljoljetschka.

Serafima Alexandrowna bemerkte nicht, wie Fedossja hereinkam und
vor ihr stehen blieb. Fedossja hatte ein verblüfftes und erschrockenes Gesicht.

»Gnädige, hören Sie, Gnädige,« rief sie leise mit zitternder und
aufgeregter Stimme.

Serafima Alexandrowna kam zu sich. Fedossjas Gesicht machte
sie unruhig.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 499, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0499.html)