Text
Von Paul Ritter von Kittinger (Wien).
Muthet es nicht fast wie ein Wunder an, dass ein so wenig
»verrückter« Künstler wie Orchardson in der modernen Kunstwelt
unter die grossen gezählt wird? Grelle Farbenorgien, phantastische
Composition, krasser Realismus oder mystische Unverständlichkeit, die
vier Symptome, welche das Publicum für die sicheren Merkmale des
Modernen hält, fehlen ihm gänzlich. Seine Bilder sind sämmtlich in
discreten, warmen Tönen gehalten, seine Motive aus dem Leben der
Salons genommen, oft mit einem altmodisch-sentimentalen Zug, eine
junge Frau vor dem Spiegel, eine am Clavier, eine Ballgesellschaft,
noch dazu meist in Empire-Milieu, oder es sind gar Historien, Napoleon
auf dem Bellerophon, Voltaire, Hamlet und Ophelia, lauter Gegen-
stände, wie sie sich ein Maler der fünfziger Jahre nicht schöner hätte
wünschen können. Und doch gilt Orchardson als einer der bedeutendsten
englischen Maler der Gegenwart. Der Grund davon ist wohl der, dass
die ganze englische Kunst hinter ihm steht, die grosse neue Kunst,
die die Ästhetik der Welt reformiert, der grosse Geschmack, der den
neuen Stil geschaffen hat, das künstlerische England. England will,
dass Orchardson gross ist und darum ist er es. England kann befehlen.
Es bringt uns ja Burne-Jones, Walter Crane, Whistler und wir be-
wundern. Es sagt uns: Orchardson ist auch einer von diesen Grossen,
wir müssen es wohl glauben. Warum, verstehen wir freilich nicht, wir,
die wir nur geblendet dastehen vor der Zauberpracht der englischen
Kunst. Wir ahnen ja nicht, dass das alles ein mächtiger nationaler
Stock ist, etwas Einheitliches, das organisch aus einer lebensfrischen
Volksseele emporwächst. Für uns sind sie bloss bizarr, geistreich, etwas
noch nie Dagewesenes, diese englischen Maler. In England aber sind
sie natürlich, selbstverständlich, so selbstverständlich, wie einst Albrecht
Dürer in Nürnberg war. England fragt nicht, ist Orchardson ein
Moderner, es sieht nur, dass er englisch ist und darum ist er gross
und modern zugleich. Da steht eine junge Frau vor einem Spiegel,
ein Bouquet in der Hand. Das Licht im Zimmer ist gedämpft, die
junge Frau trägt ein weisses Seidenkleid, sie sieht in den Spiegel —
so eigentümlich — halb träumend. Das ist eine Melodie aus Tennyson,
man kennt sie in England. »A hundred years ago.« Rings an der Wand
hängen Ahnenbilder, ein junges Mädchen sitzt im Grossvaterstuhl, zart,
etwas blass. Sie blickt träumerisch auf die Bilder an der Wand. Das
ist eine der sweet girls aus Bulwers veralteten Romanen Freie
Seeküste, ein Mädchen in weitem Strohhut, die Hände im Nacken ge-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 530, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0530.html)