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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 531

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ORCHARDSON UND DIE ENGLISCHE KUNST. 531

faltet. Sie beugt sich zurück, der Wind spielt in ihren Haaren und
sie singt. Was singt sie wohl? »My heart ’s in the highland whereever
I go « Es ist an Bord eines Kriegsschiffes, im Vordergrunde
steht eine kleine untersetzte Gestalt, Napoleon. Er sieht hinaus aufs
Meer, sein Blick ist umflort. Auch er träumt. Das hat er von dem
englischen Maler gelernt. Im nebligen England träumt man viel. Man
träumt von zarten Frauengestalten mit blonden Haaren, von etwas
sehr Distinguiertem, Lustigen. Das Etwas ist fair oder es ist lovely.
Fair ist nicht schön wie eine griechische Venus, fair war die wunder-
same Queen Guenevere, die zwischen Rosen thronte mit Rittern und
Knappen. Und lovely ist nicht lieblich wie die griechischen Grazien
oder die Damen des Rococo, lovely ist viel zarter, lovely kann
schwärmen, kann weinen, lovely ist eben englisch. Es ist eine jener
zarten, feinen, verklingenden Seelenmelodien, die der Südländer nicht
verstehen kann, die den traumhaften Nebel des Nordens brauchen
zu ihrem Gedeihen. Diese feinen, zarten Stimmungsnuancen, die man
nicht in Worten sagen kann, sie sind die eigentliche Domäne
Orchardsons. Er malt sie in ihrer feinsten Steigerung ohne jeden
lauten Ton, ohne jede scharfe Geberde, wie eine Delicatesse, die nur
auf reichen Tischen zu finden ist. Darum malt er auch selten arme
Leute. Die Armut hat immer etwas Rüdes an sich, wenn man sie
malt. Etwas Rüdes aber wäre ein greller Misston in Orchardsons Bildern.
Er kann Verzweiflung malen, aber es darf kein brüsker Ton darin
sein. »Trouble« heisst eines seiner Bilder. Ein gedämpftes Interieur,
ein rauschendes Seidenkleid, darüber ein feingeschnittenes blasses Profil
und vorne ein Mann, der schluchzend an seinem Schreibtisch sitzt.
Ein unsäglich tiefer Schmerz liegt über dem Bilde, und doch keine
einzige scharfe Linie, kein einziger greller Ton. »Hard hit« heisst ein
anderes. Ein eleganter junger Mann verlässt das Spielzimmer, er hat
verloren. Die rechte Hand ruht auf der Thürklinke, die Augen sind
halb geschlossen, der Kopf etwas nach vorne geneigt. Seine ganze
Erscheinung ist durchaus distinguiert und ruhig, und doch ist jeder,
der das Bild sieht, von dem tiefen Ernst der Situation ergriffen.

Das ist alles feinste Seelenmalerei, Seelenmalerei, die nur deshalb
nicht blass und schwächlich wird, weil die Empfindungen, die sie malt,
in den feinsten Nuancen vibrieren. Die Leute sind darnach, dass sie
weinen können ohne zu heulen, selig sein ohne zu jubeln und darum
brauchen sie auch nicht zu lärmen, damit man an die Tiefe und Stärke
ihres Seelenlebens glaubt. Sie sind ja die Träumer, die Leute aus dem
Nebelland, wo schön nicht schön, und lieblich nicht lieblich ist, sondern
etwas anderes, etwas — etwas — Englisches. Und darin liegt Orchard-
sons Bedeutung und die Bedeutung der englischen Kunst überhaupt.
In England gibt es keine Schule der Symbolisten, der Naturalisten
oder Farbenzauberer, in England gibt es nur eine englische Schule,
die der Grundton alles anderen ist. Für uns bilden Böcklin, Moreau,
Burne-Jones eine Kategorie, Simm etwa und Orchardson eine andere,
weil diese höheres Genre und jene Mythen und Allegorien malen. In

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 531, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0531.html)