Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 549

Text

GESPRÄCH MIT JAPANERN.
Von Multatuli.
Aus dem Holländischen von W. S.

Kami und ich sprachen von der Keuschheit.

Der Diener gieng hinaus und das Kammermädchen trat ein.
Sie war lebhaft geröthet von all dem Japanisch, das sie gelernt zu
haben schien.

»Mein Herr, möchten Sie diese gelben Herren wohl ’mal fragen,
ob es wahr ist, dass ihr Diener wirklich ein blühendes Geschäft in
seinem Lande hat? Und ob ich darauf rechnen kann, dass er mich
anständig versorgt? Denn ich bin nicht so dumm wie Margot, die
jetzt mit ihrem vaterlosen Kinde betteln geht. Sollte mir gerade ein-
fallen! Ich will erst wissen denn sehen Sie, ich halte was auf
meine Reputierlichkeit.

Und um einen guten Platz zu verlieren, ohne sicher zu sein,
dass ich nicht auf dem Pflaster liegen werde wie Margot, die sich
nirgends sehen lassen kann, weil sie kein anständiges Mädchen ist «

— »Genug, Kammerkätzchen, anständiges Mädchen, Du kannst
gehen. Nein, halt, ein Wort noch: wie weit seid Ihr in Eurem japa-
nischen Unterricht?«

— »O macht sich schon, Herr , wenn ich nur wüsst’, ob sein
Ladengeschäft bei ihm zu Hause gut geht, und dass es mir nicht gehen
wird wie Margot «

— »Und Eure Stunden im Holländisch?«

— »Er hat nur sechs Gulden die Woche und »die Kost«. Sie
werden ja wohl verstehen, dass ich nicht später wie Margot «

— »Genug damit, Du kannst zu Deiner Lection zurückkehren, tugend-
hafte Kammerjungfer! — Habt Ihr gesehen, Kami, wie dieses Kammer-
mädchen voll ist von den Tugenden des Tages, wie eine holländische
Regierung? — Vollkommen, bauchloser Ergründer, der Du die Wahr-
heit aus Dienern und Dienerinnen herausholst. Doch kann man diese
beiden Exemplare als Typen für die Allgemeinheit ansehen?«

— »Ich glaube ja, Kami. Ihr habt gehört, wie ein gangbares Sprich-
wort die Ehrlichkeit mit der Elle misst, wie Ihr die Stücke Seide, von
denen Ihr mir nichts zum Angebinde machtet, und wie das tugend-
hafte Kammermädchen ihr japanisches Studium den Finanzverhält-
nissen seines Lehrers unterordnet. Kami, so ist es überall. In den
oberen Classen der Gesellschaft hat man nicht die Gewohnheit, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 549, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0549.html)