Text
Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, aber im Grunde beruht
alles auf dem
Gelde.«
— »Wenn ich als nicht Tugendhafter einen Schwächeren finden
würde und ich verpflichtete ihn, ohne Lohn für mich zu arbeiten,
damit ich als Müssiggänger auf seine Kosten leben kann, so würde das
als sehr unredlich gelten bis zu dem Augenblick, wo ich mit gleicher-
weise gestohlenem Gelde Eisenbahnen bauen könnte. Das werdet Ihr
ja wissen, Kami, der Ihr Kraft und Geduld genug hattet, den Be-
rathungen der Kammern beizuwohnen, die nicht das niederländische
Volk repräsentieren.«
— »Wenn ich jemanden schlüge und auspeitschte oder ich sperrte
ihn ein und liesse ihn Hungers sterben, würde ich als wenig em-
pfehlenswert gelten, denn man würde mich fragen, welchen Gewinn
diese Operationen eintrugen, und ich könnte dann keinen aufweisen.
Aber im Haag konntet Ihr constatieren, wie die ehrenhaftesten Männer
von siebzig Nestern sehr von der Tugend einer Regierung befriedigt
waren, die ohne irgend welche Scham dasselbe Ding betreibt. Habt
Ihr, o Kami, in der Kammer ob der Vertheilung der Colonialreich-
thümer irgend jemanden erröthen sehen?«
— »Nein, ich muss bekennen, dass diese Herren durchaus ein
ruhiges Gewissen zu haben schienen. Es waren welche mit Bäuchen
dabei oh, geschwollen von Tugend!«
— »Und die sie niemals öffnen, o Kami, dem das ärgerlich genug
ist. Und die andere der Tugenden des Tages, die beide nur eine
ausmachen, zeigt überall das gleiche Verhältnis. Da seht z. R in
der Zeitung:
Verehelicht:
Herr JANSEN
mit
Fräulein PIETERSE.
Fräulein Pieterse ist jetzt Madame Jansen. Das heisst: Herr
Jansen hat Fräulein Pieterse versprochen, dass er sie nicht auf
der Strasse lassen würde wie Margot. Das hat er ihr im Rath-
hause vor Zeugen versprochen. Und er hat seinen Namen in ein Buch
eingetragen, wo man später genau erkennen kann, wer der Vater
der Kinder des Fräulein Pieterse ist und wer demgemäss die Schul-
gelder und die Impfbescheinigung, zu bezahlen hat. Doch wenn
Fräulein Pieterse mit Herrn Jansen zusammengezogen wäre, und zwar
bevor oder ohne dass derselbe sein Versprechen in dem Buche des
Rathhauses festlegte, so wäre dem Mädchen Schamlosigkeit nach-
gesagt worden. Ihre Kinder hätte man genannt illegitim oder na-
türlich
«
— »Und wie nennt man sie jetzt?
— »Nicht-natürlich und legitim, o Kami, der Ihr einen Geist habt
unersättlich, wie die Raubgier eines christlichen Staates. Nun sind
diese Kinder legitim durch ihre Nicht-Natürlichkeit. Denn der Haupt-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 550, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0550.html)