Text
ein junges Mädchen, das in das Wort jemandes ohne die Ceremonie
des öffentlichen Versprechens Vertrauen gesetzt hatte, als minder ehrbar
hinstellte als ein anderes. Höchstens war sie einer Unverständigkeit
schuldig, indem sie vergass, dass das menschliche Herz schlecht ist,
was man doch sonst männiglich weiss.«
— »Ich sagte Euch, dass es anfänglich nicht so war, o Kami. Die
Erfindung des Wortes Keuschheit oder Anstand «
— »Du sagtest, dass diese Hälfte der allgemeinen Tugend — die
zwei ist — nicht erfunden sei.«
— »Und ich wiederhole, o Kami, der Ihr von Unaufmerksamkeit
überfliesst, die Sache ist nicht erfunden worden, weil sie nichts ist.
Aber das Wort für dieses illusionäre Ding wurde von der Zeit an-
gewandt, wo man einen Popanz nöthig hatte, um einen Schutz gegen
die Verminderung der Portionen aufzustellen, die eine Folge des An-
wachsens der Menschenzahl war. Die jungen Mädchen aber, die sich
jetzt über den Ton dieses Wortes entsetzen, wissen nicht, dass zu
einer bestimmten Epoche ihre Unvorsichtigkeit nicht als Sünde aus-
gelegt wurde. Damals, in wenig fernen Zeiten, war es keineswegs eine
Schande, natürlich zu sein.*) Hier habe ich ein kleines, sehr interessantes
Buch,**) aus dem hervorgeht, dass in Nordamerika vor nun sechzig
Jahren die Keuschheit in dem durch die Hungercivilisation gegebenen
Sinne des Wortes unbekannt war. »Keine Unvorsichtigkeit« — sagt ein
amerikanischer Häuptling — »konnte ein Weib aus dem Hause seiner
Eltern verbannen; mag sie noch so viel Kinder ins Haus bringen, sie
ist immer die Gerngesehene; der Fleischkessel ist immer
über dem Feuer, um sie zu ernähren.« Seht Ihr, Kami, die
ganze Keuschheit, die ganze Wohlanständigkeit ist in diesem Fleisch-
kessel gelegen. Nehmt diesen Kessel weg, und Ihr werdet die Eltern
alsbald ein Wort erfinden sehen, das einen Fluch auf die Tochter
schleudert, die dem Hause einen Säugling ohne gehörig registrierten
Vater zuführt.«
— »Denken diese Rothhäute noch so?«
— »Ich glaube es nicht, Kami mit Euerem gelben Teint. Ich denke,
dass die weissen Amerikaner ihnen die Fleischkessel weggenommen
haben, um ihnen an deren Stelle einige Kernsprüche über die Tugend
zu schenken. Wenn jetzt ein Mädchen ein Kind gebärt, das der über-
mässigen Natürlichkeit schuldig ist, so wird sie es zweifellos tödten,
wie man’s ja auch in den civilisierten Ländern thut. Seht, o Kami, der
Ihr wünschet, die Civilisation aus einem Journal zu schöpfen: »Die
Leiche eines neugeborenen Kindes wurde heute morgens
*) (Note des Autors von 1865.) Ich habe mich in Ländern aufgehalten,
wo der Kindermord als Ursache der Schande unbekannt war. Aber diese ein-
geredete Schande und als ihre Folge diese Morde habe ich mit dem Christen-
thum dort sich einfuhren und festsetzen sehen.
**) (Note des Autors von 1865). Biographie des Makatai-Meshekia-
Kiak, nach officiellen Documenten. Von R. Postumus, Leenwaarden bei
D. Meinersma, 1847.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 552, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0552.html)