Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 566

Der Hunger nach Kunst (Jostenoode, Harold Arjuna van)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 566

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DER HUNGER NACH KUNST.
Von HAROLD ARJUNA VON JOSTENOODE (Brüssel).

Noch vor einem Menschenalter war bei uns allgemeine Klage über
den Mangel an Kunst, über Mangel an Geschmack und über Mangel
an Entgegenkommen von Seiten der Regierung und der gebildeten
Stände gegen die Forderungen der Künstler nach Beschäftigung. Heute
sind wir allmählich in eine Periode getreten, die einem förmlichen
Heisshunger nach Kunst Platz gemacht hat. Es regnet beinahe Kunst-
geschichten und ästhetische Betrachtungen, und die Kunstzeitschriften
spriessen wie Pilze aus der Erde. Die Künstler überschwemmen den
Markt mit Kunstwerken und die Regierungen lassen sich angelegen
sein, öffentliche Gebäude möglichst mit Statuen und Frescogemälden
versehen zu lassen. Die Theater wetteifern, die schönsten und echtesten
Costume dem kunstsinnigen Publicum vorzuführen, und sogar die Wirts-
häuser folgen dem Zuge der Zeit und schmücken sich mit stilvoller,
altdeutscher Einrichtung und entsprechenden Wandgemälden.

Es war in der That Zeit, dass es so kam. Denn, wenn man die
unkünstlerische Periode bedenkt, die von den Zeiten der Freiheitskriege
bis vor kurzem geherrscht hat, dann kann man sich eines Aufathmens
nicht erwehren, dass diese nüchterne, trockene, unästhetische Zeit vorüber
ist. Es sieht aus, als ob nach einem historischen Gesetze, dass auf eine Rich-
tung nach einer Seite später eine Neigung nach der entgegengesetzten
sich geltendmacht, wir mit vollen Segeln in eine künstlerische Periode
einlenken. Der Wind ist jedenfalls günstig. Man kann sich heute
kaum noch eine Vorstellung machen, welche Armut und Hässlichkeit
damals in deutschen Bürgerhäusern die Regel war. Von stil-
voller Einrichtung war keine Rede. Die Mode pflegte so geschmacklos
wie möglich zu sein. Das Kunstverständnis war aus Mangel an Kenntnis
und Übung auf dem Gefrierpunkt. Und wenn auch einige geniale
Fürsten, wie Ludwig I. von Bayern, sich bemühten, das Volk künst-
lerisch zu erziehen, so fielen doch ihre wohlgemeinten Bestrebungen
in der Regel auf unfruchtbaren Boden. Der Münchner Bierphilister
gieng doch lieber ins rauchgeschwängerte Hofbräu, als in die »Bigedeg«
oder »Glibbedeg«. Vor einigen Jahren veranstaltete man in Coburg
eine Bilderausstellung. Aber niemand kam. Da gerieth der arrangierende
Hofmarschall auf den genialen Einfall, dort die beliebten Würstchen
verkaufen zu lassen. Das zog. Von da an war die Kunstausstellung
gestopft voll. Diese Anekdote ist bezeichnend. Auch heute noch steht die
Mehrzahl der bierehrlichen deutschen Philister auf demselben banau-
sischen Standpunkte. Ohne Würste kein Kunstgenuss! Es fehlt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 566, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0566.html)