Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 575
Text
Von WILHELM SPOHR (Friedrichshagen).
(Schluss.)
Die schönen von der »Jugend« veröffentlichten Blätter bedürfen
nicht meiner besonderen Erwähnung. Aber des Bildes »Bruderseele«
im »Simplicissimus« muss ich gedenken, weil es bemerkswert für Fidus
höheres Wollen ist. Ich darf hier nicht von dem kühnen Architekten
Fidus reden, weil dem Leser jede Anschauung fehlt. In »Bruderseele»
macht sich nun in bescheidener Weise eine architektonische Absicht
geltend und es ist das einzige derartige Blatt, das eine Zeitschrift zu
bringen unternahm. Das Bild zeigt im Hintergrunde einen Jüngling,
der die Orgel spielt und uns also den Rücken zuwendet; rechts vorn
wie eine verzweifelt Betende knieend und aus den Klängen Balsam
für die verwundete Seele saugend, ein Mädchen. Die unerhörte leiden-
schaftliche Gewalt, die aus jedem Linienzug der Silhouette des Orgel-
spielers spricht und die demgemäss gestimmte Architektur der Orgel
machen dies Bild Jedem dramatisch lebendig. Es war wohl ein Ver-
such von Fidus, in dem er im Grunde conventionelle Mittel, jedoch in
neuer Gruppierung wirkungsvoll anwandte, einen Uebergang zu schaffen
zu den neuen architektonischen Gedanken, die in ihm nach Anwendung
verlangten. Die Lösung einer Hauptaufgabe, die er dem Baukünstler
stellen möchte, ist ihm hier wunderbar gelungen; diese Architektur schreit
förmlich dem Beschauer ihren engen Bezug zum Menschen entgegen.
Da streben die Tuben und Flöten und die sie vermittelnde Architektur
auf das Centrum hin, auf den Punkt, wo die ergriffene Seele die Werk-
zeuge dazu hinzureissen sucht, ihr im Tone Verkörperung zu verleihen.
Die weisse Gestalt des Mädchens im Vordergrunde ist mir nur eine nette
Episode, die Beziehungen verdeutlicht. Aber diese lebendige, intellectuelle,
Mittel und Zweck gewordene Architektur der Orgel und diese ergreifende
Menschenseele, die in allen Zügen des Leibes zittert und so mit aller
Kraft arbeitend nach Ausdruck ringt, sie gehören zusammen, sie lassen
in uns eine Weise erklingen, die das Innerste aufrührt.
Wiewohl Fidus Leistungen im Buchschmuck besondere Be-
achtung verdienten, so kann ich mich doch nur auf einen ganz allge-
meinen Hinweis einlassen. Hier ist sein Ideenfeuerwerk so recht am
Platze. Seine Kunst schaltet ganz frei mit ihren eigenen Elementen,
indem sie sich nur der Stimmung des Textes anpasst und dennoch
bescheiden sich nicht über ihre eigentliche Aufgabe erhebt; so ent-
steht in dem Buche ein kleines edles Gesammt-Kunstwerk mit aus-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 575, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0575.html)