Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 567

Der Hunger nach Kunst (Jostenoode, Harold Arjuna van)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 567

Text

HUNGER NACH KUNST. 567

eben allenthalben an der künstlerischen Erziehung und ist daher das
Kunstverständnis naturgemäss unentwickelt.

Es ist kein Zufall, dass die älteste deutsche Poesie so formlos
ist im Vergleiche zu der hellenischen. Die germanische Dichtung war
aufgebaut auf Gesetzen, die vom Verstande oder vom Gefühle dictiert
waren: gewisse Contraste wurden mit starken Accenten dargestellt, der
Dichter war so erfüllt von seinem Stoffe, dass er in wuchtigen Worten,
in steten Wiederholungen seinem Gedanken Ausdruck verlieh. Der
Stabreim war da ganz am Platze. Aber eine Beherrschung der Form
war damit nicht gegeben. Der Sänger selbst wurde beherrscht. Eine oft
ungeheure Leidenschaft liegt in diesen einfachen Ausdrücken. Aber der
Dichter ist nicht im Stande diese Leidenschaft objectiv darzustellen, wie
Homer. Es fehlt ihm dazu an Formgefühl. Wenn nun auch die Germanen
durch den Einfluss der romanischen Poesie auf diesem Gebiete viel
gelernt — ja sich geradezu vom alten germanischen Boden entfernt
haben — so konnten sie doch nicht zu der Beherrschung der sinn-
lichen Form gelangen, wie die Bewohner des sonnigen Südens. Das
liegt in der Rasse. Man braucht nur über die Grenze zu kommen und
Italiener oder Franzosen zu beobachten, so bemerkt man bald, dass bei
aller möglichen Dressur der Deutsche niemals das Anmuthige in seinem
Wesen, die Eleganz, die Grazie erreichen wird, die jene haben.

Daher sollte der Germane bei der kommenden Kunstperiode
Rücksicht darauf nehmen, was für ihn passt. Die Romanen haben ihm
so lange als Muster gedient, und die alten »Classiker« sind zum Über-
druss in den Gymnasien gepaukt worden. Kein Wunder, dass der
moderne Deutsche schliesslich unsicher geworden ist und nicht recht
weiss, wohin er sich wenden soll. Die deutschen Classiker haben auf
diesem Gebiete auch eine Richtung befolgt, die man heute nicht mehr
als massgebend ansehen kann. Wir sind seit den Tagen der Romantik
sicher nationaler geworden. Nur war es von Seiten der Romantiker
oft nur ein unsicheres Tappen im Dunkeln. Jetzt haben wir durch
gründliche Studien auf dem Gebiete der Germanistik, der Volkskunde,
der Geschichte ein besseres Auge bekommen für das, was wirklich
volksthümlich ist und was nicht. Richard Wagner namentlich mit seinen
gigantischen Bestrebungen ist der eigentliche Bahnbrecher auf dem
Gebiete der Kunst. Er hat sie wieder national gemacht. Bayreuth
ist noch heute die classische Schule für die deutsche Kunst, Bayreuth,
das germanische Olympia, die Werkstätte volksthümlich-nationaler Cultur.

Aber noch viel bleibt zu thun. Noch lebt der Durchschnittsmensch,
der echte Bildungsphilister, trotz seines Firniss von Bildungsschwindel,
in ästhetischen Dingen als ein Barbar. Er spricht zwar heutzutage
schon über Kunst und wiederholt wohl hin und wieder dunkle Aus-
sprüche, die er einer Kritik in seinem Bildungsblättchen entnommen
hat. Aber im Grunde fehlt ihm jede solide Grundlage.

Man müsste damit anfangen, auf den Schulen die Kinder
systematisch zum Verständnis des Schönen zu erziehen. Aber freilich
sind ja die Lehrer selbst meist am weitesten davon entfernt, irgend

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 567, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0567.html)