Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 568
Text
etwas vom ästhetischen Standpunkte aus zu betrachten. Bei ihnen ist
der Hunger nach Schönheit nur allzu sehr erstickt durch den Heiss-
hunger nach Wissen. Betrachtung der Schönheit um ihrer selbst
willen, ist bei Vielen die verbotene Frucht, bei manchem Geistlichen
sogar eine Art Teufelsdienst. Mit Schrecken und geheimer Besorgnis
sehen viele auf die Einführung von schönen Bildern in die Schule.
Ein preussischer Schulrath sprach mir einmal vom »Bilderdienst in
der Schule«. Ja freilich! Das waren ja so schöne Zeiten, als die
weissgetünchten kahlen Wände ernst und würdevoll auf die Classe
niedersahen, in der der gelehrte Philologe mit unerschütterlichem
Gleichmuth vor der gähnenden Classe seine Feinheiten der Syntax
erklärte! Jahrhunderte lang hatte dieses herrliche System gedauert,
ganze Generationen von pedantischen Stockphilologen (in jeder Bedeutung
des Wortes!) und geistlosen Zopfjuristen sind auf diese Weise zum
grossen Schaden der Nation herangezüchtet worden. Da kann man
sich nicht wundern, dass dem deutschen Volke der Schönheitssinn
absterben musste. Noch jetzt lastet die Tyrannis der Juristen und
Schulmeister wie ein Bleigewicht auf dem unglücklichen Volke. Sie
wesentlich trifft die Schuld, dass das Volk künstlerisch zurückgeblieben
ist. Denn sie hatten das Heft in Händen und haben das Grosse über
dem Kleinen übersehen. Unsere ganze Bildung leidet darunter.
Ich hatte im Louvre zu Paris eine Lieblingsmadonna. Als ich
einmal wieder vor ihr stand und ihre vergeistigten Züge bewunderte,
hörte ich mit Entsetzen eine Dame näherkommen, die im Gehen mit
grosser Zungengeläufigkeit allen Malern der betreffenden Bilder ihre
Sünden vorhielt. Als sie vor meine Madonna gekommen war, bemerkte
sie: »Ah, da ist ja diese Madonna! Na, nicht so übel! Aber die Hand
ist zu gross!« Ich sah hin. Richtig, sie hatte Recht. Ich hatte in
meiner Begeisterung die Grösse der Hand übersehen. Aber von da ab
konnte ich das Bild nicht mehr ansehen. Ich musste immer an die zu
grosse Hand denken. Die Dame war natürlich eine Berlinerin.
Uebertroffen wurde sie aber noch von jener Wienerin, die mir
einmal in der »Götterdämmerung« naiv erklärte, man gienge ja nur
in die Oper, um neue Costume auf der Bühne zu sehen. Bei diesem
Kunstverständnis verstummte ich besiegt.
Ich könnte die Reihe solcher kunstliebender Damen nach Belieben
fortsetzen. Aber es genügt hier aus der Praxis festgestellt zu haben,
dass ein wahrer Tiefstand des Kunstverständnisses beim Publicum
vorhanden sein muss.
Und doch hat jeder, auch der Ungebildetste ein gewisses
Bedürfnis nach Schönheit. Es fragt sich nur, wie es zu wecken ist.
Man musste jedenfalls beim Volke im Kleinen anfangen, z. B. in der
Sorge um Herstellung einer ästhetischen Kleidung. Die alten Volks-
trachten hatten in dieser Hinsicht einen entschieden besseren Einfluss
als unsere heutige Schornsteinfegerkleidung. Die Kleidung ist das
Erste, worauf man den Sinn richten musste, will man eine Hebung
des Geschmackes bewirken. Die ästhetische Bewegung in England,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 568, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0568.html)