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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 581

Text

SCENE AUS »FANTASIO«. 581

danken; sein Wesen gehört ihm allein. Ach! die Menschen sagen
einander alle das Gleiche; in ihren Gesprächen kehren dieselben Gedanken
fast immer wieder. Aber im Innern dieser einsamen Gedankenfabriken,
wie viel Windungen, wie viel geheimnisvolle Winkel! Eine Welt birgt
jeder in sich, eine heimliche Welt, die lautlos wird und verschwindet!
Wie vereinsamt sind all diese menschlichen Körper!

Spark. Trink’, Träumer, statt Dir den Kopf zu zerbrechen.

Fantasio. Nur eins hat mich seit drei Tagen belustigt: meine
Gläubiger haben einen Haftbefehl gegen mich erwirkt; wie ich den
Fuss in mein Haus setze, werden vier Lümmel mich beim Kragen fassen.

Spark. Sehr unterhaltend in der That. Wo wirst Du heute
nachts schlafen?

Fantasio. Bei der erstbesten. Morgen früh werden meine Möbel
versteigert; wir kaufen doch welche, nicht?

Spark. Brauchst Du Geld, Heinrich? Willst Du meine Börse?

Fantasio. Kind! hätt’ ich kein Geld, ich hätte keine Schulden.
Ich will ein Mädel vom Ballet zur Liebsten nehmen.

Spark. Das wird Dich tödtlich langweilen.

Fantasio. Durchaus nicht; meine Phantasie wird von Pirouetten
und kleinen weissen Atlasschuhen erfüllt sein; mein Handschuh wird
vom ersten Januar bis zur Sylvesternacht auf einer Logenbrüstung liegen
und in meinen Traumen werd’ ich Clarinettensoli trillern, bis ich an
meiner Erdbeerleidenschaft in den Armen der Liebsten sterbe. Ist es
Dir noch nie eingefallen, Spark? Wir haben keinen Stand, wir üben
keinen Beruf aus.

Spark. Ist das der Grund Deines Trübsinns?

Fantasio. Bist Du jemals einem melancholischen Fechtmeister
begegnet?

Spark. Du machst mir den Eindruck, als wärest Du über alles hinaus.

Fantasio. Ach Freund, dazu müsste man viel herumge-
kommen sein!

Spark. Nun also?

Fantasio. Nun also! Wohin soll ich geh’n? Betrachte diese alte
rauchgeschwärzte Stadt! Gibt es einen Platz, eine Gasse, ein Gässchen,
worin ich nicht hundertmal geschlendert wäre? Kein Pflasterstein, über
weichen nicht diese abgenutzten Sohlen schleiften; kein Haus, wo ich
nicht wüsste, wer das Mädchen oder die alte Frau, deren blöder Kopf
sich ewig am Fenster zeichnet; bei jedem Schritt tret’ ich in meine
Stapfen von gestern. Nun, lieber Freund, weit schlimmer sieht es in
meinem Gehirn aus. Alle Winkel darin kenn’ ich noch hundertmal besser:
alle Strassen, alle Höhlen meiner Phantasie sind noch weit öfter durch-
wandert; hundertmal öfter bin ich in diesem zerrütteten Gehirn gewandelt,
ich, sein einziger Bewohner! In allen Schenken darin hab’ ich mich
bezecht; bin üppig darin gelagert wie ein Despot in goldner Carosse;
bin darin als braver Bürger auf friedsamem Esel getrabt, und ich wag’
es bloss jetzt nicht, mich als Dieb einzuschleichen, eine Blendlaterne
in der Hand.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 581, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0581.html)