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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 583

Text

SCENE AUS »FANTASIO«. 583

Spark. Geh’ nach Frankreich.

Fantasio. Es gibt keinen guten Rheinwein in Paris.

Spark. Geh’ nach England.

Fantasio. Ich bin in England. Haben die Engländer ein
Vaterland? Ich seh’ sie hier so gern wie in ihrer Heimat.

Spark. Geh’ also zum Teufel.

Fantasio. Oh! wenn es einen Teufel im Himmel gäbe! Wenn
es eine Hölle gäbe! Ich würde mir eine Kugel vor den Kopf schiessen,
all das zu schau’n. Welch erbärmliches Ding ist doch der Mensch!
Man kann nicht aus dem Fenster springen, ohne sich die Beine zu
zerbrechen! Man muss zehn Jahre die Geige spielen, um ein erträglicher
Musiker zu werden! Lernen, um Maler, lernen, um Stallknecht zu
sein! Lernen, um eine Omelette zu bereiten! Weisst Du, Spark, ich
habe Lust, mich auf ein Geländer zu setzen, den fliessenden Strom
zu betrachten und zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben,
und so weiter bis zu meiner Sterbestunde.

Spark. Was Du da sagst, würde viele zum Lachen reizen;
mich macht es erbeben: das ist die Geschichte uns’res ganzen Jahr-
hundertes. Die Ewigkeit ist ein gewaltiger Horst, aus dem alle Jahr-
hunderte wie junge Adler nacheinander entfliegen, um den Himmel
zu durchkreuzen und zu verschwinden. Auch unser Jahrhundert ist an
den Rand des Horstes gelangt; aber man hat ihm die Flügel beschnitten,
und es erwartet den Tod, die Weite betrachtend, in die es sich nicht
zu schwingen vermag.

Fantasio (singend).

Du nennst mich Dein Leben, nenn’ mich Deine Seele;
Denn die Seele blüht ewig, das Leben verweht.

Kennst Du eine göttlichere Romanze als diese, Spark? Es ist eine
portugiesische Romanze. Immer wenn sie mir in den Sinn kam, fasste
mich heisse Sehnsucht zu lieben.

Spark. Wen zum Beispiel?

Fantasio. Wen? Ich weiss es nicht; irgend ein Mädchen, rund
wie die Frauen des Mieris, süss wie der West, bleich wie die Gefilde
des Mondes, nachdenklich wie die kleinen Mägde auf flämischen Bildern,
welche einem Reisenden den Abschiedstrunk credenzen, der mit seinen
weiten Stiefeln kerzengerade auf hohem Schimmel sitzt. Solch ein
Abschiedstrunk muss herrlich sein. Ein junges Weib auf der Thürschwelle,
im Hintergrund des Zimmers flackerndes Feuer, das Nachtmahl bereitet,
die Kinder eingeschlafen. Die ganze Ruhe des friedlich beschaulichen
Lebens in einer Ecke des Bildes. Und vorn der Mann, welcher noch
keuchend, aber fest im Sattel sitzt; er hat zwanzig Meilen zurückgelegt
und noch dreissig vor sich. Einen Schluck Brantwein und fort. Die
Nacht ist tief, das Wetter drohend, der Wald gefährlich. Die Blicke
der Frau folgen ihm einen Augenblick, dann entsinkt ihren Lippen,
indem sie zum Feuer zurückkehrt, das erhabene Opfer der Armen, das
Gebet: »Gott möge ihn beschirmen«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 583, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0583.html)