Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 596

Carltheater Key, »Missbrauchte Frauenkraft«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 596

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596 NOTIZEN.

Provinzstädte bereisen, haben daher
nicht nur eine Berechtigung,
sondern sind ein Bedürfnis. Was
uns jetzt im Carltheater diesbezüg-
lich geboten wurde, hat die Frage
wohl praktisch noch nicht gelöst,
aber wenigstens ins Rollen gebracht.
Wer einer »Solness«-Vorstellung im
Burgtheater beigewohnt hat, bei
der dieses Meisterwerk zu einem
unverständlichen Brei verrührt
wird, der vermag mit dem in be-
scheidenen Verhältnissen lebenden
Leipziger Ibsen-Theater nicht zu
streng ins Gericht zu gehen.
Dass es uns »Die Frau vom Meer«
gebracht, deren Existenz die Wiener
Theaterdirectoren bisher gänzlich
ignoriert hatten, war ein besonders
dankenswertes Beginnen. Bei den
Aufführungen von »Rosmersholm«,
»Nora«, »Gespenster«, »Wildente«,
»Hedda Gabler«, »Volksfeind«
hatte die Structur der Dichtungen
manche Kraftprobe auszuhalten,
aber man kann erfreulicherweise
berichten, Ibsen bestand. So muss
denn dem Leipziger Ensemble das
Aufklärungs-Verdienst zuerkannt
werden: Es hat gezeigt, dass
minderwertige Leistungen selbst
von Anfängern, wenn sie nur
Ibsen und nichts als Ibsen spielen,
dem Sinne einer modernen Dich-
tung beiweitem weniger gefähr-
lich werden, als die veralteten
Routinekünste gewiegter, alles-
spielender Mimen. —i—.


BÜCHER.

Ellen Key: Missbrauchte
Frauenkraft
. Autorisierte Über-
setzung von Therese Krüger. Paris,
Leipzig, München. Verlag von
Albert Langen. 1898.

Die stärksten Talente einer
Partei werden dieser gewöhnlich
untreu. Das grösste literarische
Talent, welches die Frauen in
Deutschland als Beweis der geisti-
gen Gleichheit der Geschlechter
für sich in Anspruch nehmen
können, Laura Marholm, predigt
ihnen gerade das Gegentheil. In
Schweden hat neuerdings eine
sehr hervorragende Kraft der
Frauenbewegung ihren Mitkämpfe-
rinnen den Text gelesen. Ellen
Key ist nun weitaus nicht so con-
sequent und muthig als Laura
Marholm; sie hat sich von vielem,
wofür sie seit Jahrzehnten kämpft,
noch nicht frei gemacht. Aber den
Unsinn vieler Argumente der
Gleichheit hat sie doch richtig
eingesehen. Sie sagt sehr treffend:
wäre es nur die Unterdrückung
gewesen, die den Frauen die volle
Entfaltung ihrer geistigen Kräfte
verwehrt hätte, so hätten sich ja
die Männer, die unterdrückt waren,
z. B. die Bauern und Arbeiter
(sie hätte hinzufügen können: die
Sclaven im Alterthum und die
Juden im Mittelalter), auch niemals
geistig entfalten können. Diesen
Armen und Geknechteten gegen-
über haben sich vielmehr zahllose
Frauen zu allen Zeiten in bevor-
zugter und beneidenswerter Stel-
lung befunden. Auch sind die
Universitäten und Akademien nicht
die hauptsächlichsten Bildungs-
quellen, sondern die Cultur-
schöpfungen der Völker. Wohl-
habenden Frauen z. B. hat es zu
allen Zeiten freigestanden, Meister
zu finden, falls sie zur Kunst
Talent hatten. Wenn also die
Frauen im Laufe der Geschichte
geistig trotzdem nichts oder so
verschwindend wenig geleistet

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 596, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0596.html)