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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 633

Text

ENGLÄNDER U. FRANZOSEN IN DER JUBILÄUMS-AUSSTELLUNG 633

Berglandschaften zurechtstimmen. Aber in solchen intimen Bildern,
mit der köstlichen Naturfrische ist er mir doch immer am liebsten.
Man sieht die Dinge bloss an, um des Vergnügens willen, sie anzusehen,
so wie man gerne ins Freie und aufs Land geht, bloss weil es einen
so freut. Es ist seit jeher ein Vergnügen der Menschen gewesen, diese
heimlichen Stimmen der Natur zu belauschen, und die Landschafts-
maler in London (ich meine hier nicht die Schotten) und auch Davis
ganz speciell sind nichts weiter, als solche liebevolle Naturbeobachter,
unter deren Hand jedes Thier, jeder Baum, jeder Halm seine eigene
intime Sprache bekommt.

Da hängt gleich neben dem Bilde von Davis eines von John
Robertson Reid, der auch einer von diesen englischen Naturmalern ist,
die alles gern in Details auflösen und selbst das Kleinste nicht über-
gehen wollen. Reid hat schon vor einigen Jahren in Wien ausgestellt
und damals waren die Ansichten über ihn sehr getheilt. Während
die fähigeren Elemente in Wiener Künstlerkreisen, der allzufrüh ver-
storbene Schindler an der Spitze, die Meisterschaft des englischen
Gastes sofort richtig erkannten, fehlte es auch an solchen nicht, die
für gewisse Extravaganzen — besonders die durchaus unakademisch
gemalten Augen in Reids Bild — jenen wohlwollenden Tadel zur
Hand hatten, der sich in solchen Fällen immer am besten macht.
Für das grosse Publicum mag dann noch als ausschlaggebender Factor
dazugekommen sein, dass das Bild bei den Aquarellisten aufgehängt
war, wo man erst über die Stiege hinauf muss und oben nichts als
unbequeme Divans ohne Lehnen findet. In diesen Fällen lautet das
allgemeine Urtheil meist kurz aber vernichtend: »Ja so, da oben, da
bin ich nur so durchgegangen«.

Jetzt werden sich die Wiener aber wahrscheinlich mit John Reid
aussöhnen. Auf eine Stiege mehr oder weniger kommt’s ja bei dem
gegenwärtigen, praktischen Arrangement im Künstlerhause nicht an, und
dann hängt er dermalen ganz nah beim Büffet. Überdies gebe ich
zu bedenken, dass John Reid ein englischer Naturalist ist, ein wirklicher,
ordentlicher Naturalist, und trotzdem ist er doch gewiss nicht das Ärgste,
das wir in dieser Sorte bisher gesehen haben. Die Engländer haben
eben überhaupt nicht das Zeug zu diesem Hypernaturalismus und das
ist doch gewiss sehr schön von ihnen, nicht wahr? Das erwähnte
Bild zum Beispiel ist sogar recht rührend. Zwei Waisenmädchen, die
abseits von den übrigen Personen stehen, ein sentimentales Kalb, das
einzige Wesen, das ihnen Gesellschaft leistet, und das ganze in traurigen,
grauen Tönen gehalten. Was will man mehr? Die Engländer sind
also im Grunde gar nicht so schlimm, als man sich’s vorstellt.

Das zweite Bild von Reid ist freilich etwas anders. Man
hat es hier wieder mit jenem unharmonischen Wirrwar zu thun,
das schon vor einigen Jahren an ihm befremdet hat. Aber man sehe
nur genauer zu, man beobachte die einzelnen Details, folge dem
Künstler, wohin er uns führen will, und das Wirrwarr wird allmählich
ganz amüsant und interessant werden, man wird sich sogar darüber

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 633, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0633.html)