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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 634

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RITTINGER.

freuen. Die Engländer wenigstens freuen sich darüber und seit der
Gründung des Prärafaelitenbundes im Jahre 1849 bat dieses unhar-
monische Detailmalen die englische Kunst ganz ausschliesslich beherrscht,
bis darin Whistler, und die Schotten aufgetreten sind; und jetzt noch
ist es für einen, grossen Theil der englischen Kunst Princip geblieben.
Ruskins Ideen, die den Malergeist in England geweckt haben, sind
eben nicht so leicht umzubringen.

Eine scheinbar ganz andere Kunst ist die Solomons, der durch
eine Venus vertreten ist, die er voriges Jahr in der New Gallery aus-
gestellt hat. Solomon ist aus der Schule Leightons hervorgegangen,
der so lange englischer Kunstkönig von akademischen Gnaden war
und die streng classicistische Richtung in London personifizierte. Aber
Solomon ist seiner Schule nicht treu geblieben. Die Einflüsse der
neuenglischen Kunst, besonders die der symbolistischen Neoprärafaeliten
haben umgestaltend auf seinen Stil gewirkt. Seine Venus ist von
durchaus neuenglischer Empfindung. Der übersinnlich feine Zug der
Linien, die aufknospende Zartheit des nackten Frauenleibes, die ganze
Stellung der Figur verrathen jenen neuen subtilen Geist, der bei
Burne-Jones alle Gestalten der antiken Mythe in Traumgeister aus
Dante verwandelt. Es ist etwas Melodiöses, eine Musik der Linien, in
die sich diese neuenglische Kunst auflöst, und Solomon hat theil an
ihr, Auch den Tönen Whistlers, der diese Musik der Malerei von den
Linien auf die Farben übertragen hat, hat er gelauscht. Wie wunderbar
stimmt der lichte, rosige Fleischton der Venus zu dem zarten Blau
des Himmels. Eine Harmonie in rosa und lichtblau könnte man das
Bild in Whistlers Sprache nennen. Ja, eine Harmonie ist es, in die
die englische Kunst von selbst ausgewachsen ist, aus dem Samen jener
unharmonischen Detailmalerei à la Ruskin. Aber diese Harmonie ist
viel melodiöser, vibriert in viel verklärteren, durchsichtigeren Tönen
als die irgend eines Malers am Continent, wo es nie einen Ruskin
und nie einen Detailnaturalismus im grossen Stil gegeben hat. Die
wahre Harmonie wächst eben nicht aus classischem Formenzwang
empor, sondern ist das äusserste Verklingen eines freien, tausendfältigen
Chores, der aus der grossen, bunten Natur kommt und dann von
selbst und ungezwungen die übersinnlichsten Töne trifft.

Genau dasselbe gilt auch von der reizenden Plastik von Onslow
Ford »das Echo«. Wo ist je mehr Harmonie, mehr Musik in der
Bildhauerei dargestellt worden als hier? Dieses nackte Mädchen,
dessen ganzer Körper nachts weiter zu sein scheint als eine leise
zitternde Tonwelle, die durch kühle Schatten spielt, in deren Linien
eine so ungemachte, echt englische Poesie klingt — kann man sich
etwas reizenderes denken als dieses Mädchen. Und dabei ist sie nicht
einmal schön, nämlich schön in der Art, dass sie ein akademisch ge-
schulter Bildhauer als Modell benützen würde. Ihre Schönheit ist etwas
ganz anderes, sie liegt in der wunderbaren Seele, die der Künstler in
ihre gleichgültige Form gegossen hat, diese Seele, die tausend kleine
Ausdrucksmittel am menschlichen Körper findet, die Stellung dieser

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 634, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0634.html)