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Hand, die Neigung des Kopfes, die Form dieses Muskels, und die die
conventionelle Schönheit nicht braucht, um schön zu sein.
Wenn das aber noch lauter Künstler geringeren Calibers waren,
die — bis auf Onslow Ford, der zu den Koryphäen der englischen
Plastik gehört — in der britischen Kunst nur untergeordnete Rollen
spielen, so tritt uns in Walter Crane endlich ein klingender Name
entgegen, der auch weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus
Wirkung hat, und der nicht erst ins bequeme Wiener Künstlerhaus
zu kommen braucht, um andere zu überragen. Walter Crane ist einer
der vielseitigsten unter den modernen Künstlern. Er malt Staffeleibilder,
entwirft Cartons für Glasgemälde, Muster für Tapeten, arbeitet in
Bronze, kleine Reliefs, Luster, Zimmerschmuck jeder Art, und ist vor
allem der fruchtbarste Meister der graphischen Künste. Der colorierte
Holzschnitt nach dem Muster der Japaner ist eigentlich seine Erfindung
und im einfarbigen Holzschnitt steht er in alleiniger Meisterschaft da.
Aber nicht bloss hat er fast alle Zweige der Kunst und Decoration
befruchtet, er kennt auch alle Stile, alle Geschmacksrichtungen, die
die Kunst bis zum heutigen Tage durchlaufen hat, und handhabt sie
alle mit gleicher, souveräner Sicherheit. Das will aber keineswegs
besagen, dass Walter Crane ein Künstler ohne Individualität ist, einer
jener geistreichen Anempfinder, die nur von fremden Delicatessen
leben. Dass er alles malen muss, was ihm eigenartig erscheint, ist
vielmehr gerade seine eigenste Individualität. Er ist eben durch und
durch das, was man einen romantischen Menschen nennt und genau
so, wie in die Zeit der romantischen Dichter die Entstehung einer
Weltliteratur fällt, die nach allen den fernsten, exotischesten Perlen fremder
Literatur suchte, um sie dem Schatze des nationalen Schriftthums ein-
zuverleiben, und das alles aus dem naiven Forschungsdrang des Kindes
heraus, das alles anzieht, was seltsam ist und das sich aus allem
Fremden gleich ein farbenprächtiges Wunderland aufbaut, ebenso sucht
in Walter Crane die Märchenseele der englischen Kunst nach selten
exotischen Früchten, um aus ihnen einen glänzenden Feenpalast ferner
Wunderlande zu bilden. Die grossen klaren Formen des classischen
Alterthums, der Farbenimpressionismus der Japaner, die bunte leben-
sprühende Pracht persischer Teppichweberei sind nichts anderes als
schöne Spielballen für seine verwegen kühne Phantasie. Wie ein
glänzendes, blendendes Feuerwerk lässt er sie vor uns aufsteigen und
sie zerpuffen in tausend leuchtende Feuerstrahlen, wenn sie gerade am
höchsten gestiegen sind, ohne dass man Zeit hat, über sie nach-
zudenken, von wannen sie gekommen und was sie eigentlich bedeuten.
Sie waren da, und die Berechtigung ihres Daseins liegt einfach darin,
dass sie schön waren, magisch schön.
Dass Walter Crane den Gipfel seiner Kunst erreicht, wenn er
einmal in unserem nationalen, altgermanischen Märchenstil phantasiert,
ist selbstverständlich, und das thut er gerade in seinen einfarbigen
Holzschnitten, von denen sich eine kleine Serie »The shepherd’s calender«
im Künstlerhause und die glänzendste, die er überhaupt geschaffen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 635, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0635.html)