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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 678

Text

678 MESSER.

Stelle als Lehrer bei einer privaten Mädchenschule an. Am 1. October
1844
gab er dieses Amt auf, um von nun an nie wieder in seinem
Leben eine öffentliche, wie immer auch geartete Stellung zu bekleiden.

In diese Zeit fällt der häufige Verkehr Stirners mit den »Freien«,
einer Gesellschaft radicaler Menschen, die in ungezwungener, bohemischer
Art den Genuss der Zerstreuung und gleichzeitig Anregung zur geistigen
Arbeit und Entwicklung bei einander suchten und fanden. Der damals
berühmte Freigeist Bruno Bauer bildete gleichsam das Centrum dieses
Kreises, der nie geschlossen war, sondern allen zugänglich, in steter
Veränderung blieb. Stirner wurde eines der beliebtesten Mitglieder, da
er einerseits zu liebenswürdig, andererseits zu reserviert und von
unerschütterlich gleichmässiger Ruhe des Charakters war, um sich je
Feinde zu schaffen. Man nannte ihn scherzweise, wegen seiner auf-
fallend hohen Stirne, Stirner. Johann Caspar Schmidt nahm diesen
Namen an und setzte ihn unter sein unsterbliches Werk, »Der Einzige
und sein Eigenthum
«.

Am 21. October 1843 verheirathete sich Stirner zum zweiten-
male: mit Marie Dähnhardt, der er die erste Ausgabe seines
Werkes widmete. Nach einigen glücklichen Jahren ihrer in Freiheit
geführten Ehe, trat eine Entfremdung zwischen den Gatten ein, die
endlich zur Scheidung führte. Stirner starb 1856, Marie Dähnhardt
lebt noch; nach vielen Stürmen und abenteuerlichen Erlebnissen zog
sie sich nach London zurück, wo sie einsam, ungekannt, jede intimere
Nachricht über den früheren Gatten beharrlich verweigernd, wie es
scheint, in religiösen Wahnsinn verfallen ist.

»Der Einzige und sein Eigenthum« und sein Autor erlebten einen
intensiven, aber nach einigen Jahren gänzlich verlöschenden Ruhm.
Das Jahr 1848 hatte mit seiner Sturmfluth alles vorher Geschaffene
überströmt und verdeckt. Als dann die Ebbe der Reaction eintrat,
blieb das Werk Stirners unter dem ungeheuren Schutt, den die Revo-
lution hinter sich liess, verborgen. Ja auch das Leben Stirners ist seit
dieser Zeit fast unbekannt. Man weiss nur, dass Stirner, als das letzte
Mittel, mit dem er sich ökonomisch sichern wollte, eine im Grossen
betriebene Milchwirtschaft, schnell verkrachte, ins Elend gerieth,
und dass der Philosoph, nachdem er sich 1847 von seiner Frau trennen
liess und 1852 den ersten Band einer »Geschichte der Reaction«
herausgegeben hatte, in grösster Einsamkeit, fern von den früheren
Genossen, von seinen Gläubigern bis zur Schuldhaft bedrängt, den
Schluss seines Lebens verbrachte. Er starb am 25. Juni 1856.
Ungefähr nach dreissig Jahren begann seine Wiedergeburt. John
Henry Mackays unermüdlich liebevoller Arbeit und geistiger Agitation
verdankt man es, dass aus dem Schutt der Vergessenheit gezogen
wurde, was es noch an spärlichen Nachrichten über den Verfasser
jenes Werkes gab, welches nach dem Ausspruch eines französischen
Kritikers »un livre qu’on quitte monarque« ist.

Aber auch diejenigen, welchen an den Biographien, den Lebens-
ereignissen grosser Männer weniger daran liegt, als an deren Werken,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 678, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0678.html)